Sophie Reyer
Kindheitsspuren
Sie rührt drei Löffel der Kräutermischung in den Topf kochenden Wassers. Gestrichen
voll. Die feinen Körnchen verklumpen zu Bröckchen. Sie rührt weiter. In Drehbewegungen.
Dann den Knopf nach links. Knacken. Sie zieht das Unterkiefer in
Richtung Brust. Das Gelenk unter dem linken Ohr knackst ihr. Sie stellt den linken
Fuß auf den rechten. Kalte Sohle, die am knochigen Fußrücken reibt. Ein Auto fährt
in den Hof. Das ist eines der Geräusche, auf die sie wartet. Sie tastet sich mit Zehen
den Fußrücken entlang, bis hinauf zum Schienbeinansatz. Dann: Sie greift nach dem
Kochtopf. Gießt heiße Brühe in die blaue Keramiktasse, das klingt schwappend.
Über den Holzboden schleift sie zu dem roten Lederfauteuil. Setzt sich, zieht die
Beine an sich heran. Lässt die Zehen zueinander wandern, einander wärmen.Wärmt
sich die Handinnenflächen an der blauen Tasse.Verharrt, schaut. Stille.
Der Schneehaufen vor der Haustüre hat die Hundescheiße überdeckt. Der Motor
des Autos beginnt wieder zu brummen. Fahrgeräusche. Sie reibt sich mit leisem
Schnauben die Augenwinkel und Körnchen aus ihnen heraus. Plötzlich: Den Tee
leert sie mit einem Schluck, gurgelt ihn die Kehle hinunter. Bitter. Dass es ihr schmerzt
in den Atemwegen. Sie stellt den Tee auf die dunkelblaue Filzdecke, mit der der Tisch
bekleidet ist. Jetzt haben die Hände Zeit für die Füße. Umfassen sie, beginnen zu
kneten. Strecken sich dann aus und sie lässt sie über der Öffnung des Radiators in
der Luft verharren. Legt die Hände in die Mulde über den Knöcheln. Sie verweilen
dort bewegungslos.
(Sie könnte schon kommen jetzt denkst du der Unterleib eine Wölbung wie mit Wasser angefüllt wabbelig
die Konsistenz von Gummibärchen/Gelatine das Gefühl um die Nieren die Füße schwer und wie geschwollen
und es würde dich nicht wundern wären da blaue Äderchen/dichtes Geflecht/durch die
Hautschicht schimmerndes Wurzelwerk das sind doch die Symptome sind das nicht die Symptome dir ist
schließlich zum Heulen könntest dich häuten der Kehlkopf ist ein Knödel nicht herunterzuschlucken trotzdem
schluckst du nach und aber alles andere wäre doch unmöglich oder solltest du vielleicht doch den
Schwangerschaftstest)
Sie zieht ihre Vorhänge ein Stück zur Seite und sieht durch das doppelte Fensterglas.
Im Erdgeschoß gegenüber brennt Licht. Die Schneehaufen auf dem Steinpflaster
sind schmutzgetränkt.Wie runzelig, denkt sie. Der Kirschbaum streckt die Äste ins
helle Grau des Himmels. Knorrig. Die Wand des gegenüberliegenden Hauses gelb.
Verputz bröckelt.Vom Balkon des dritten Stocks – der wie zusammengenagelt, eine
Bretterkiste – flattert ein blümchenbemusterter Fetzen herunter.
Er könnte herauskommen, rauchen. Die Zigarette in der Thunfischdose ausdämpfen,
sie dann ans Fensterbrett stellen. Ein paar Schritte vor der Haustüre machen,
in den Lederschlapfen. Die knochigen Arme hochheben, schnell wieder fallen
lassen. Sich auf die Unterlippe beißen.
Er kommt nicht.
Der Hof bleibt gleich, solange sie schaut. Nur Geräusche von Autos, die vorbeirauschen.
Irgendwo auf der Straße nebenan. Sie kehrt zurück zum Tisch. Es wird
nicht warm. Sie bricht ein paar Rippen Schokolade ab, steckt die Quadrate in den
Mund, lutscht sich den Zeigefinger ab. Kaut und schluckt schnell. Und weiter: Und
sie schiebt die abgebrochenen Rippen in sich hinein, lässt dann den Zeigefinger
über das Papier wandern. Bleiben einzelne Reste haften, die sie von der Fingerspitze
leckt.
Die Großmutter schaut durch den Türspalt zu dir herein und ein Streifen Licht fällt auf dich. Du sollst
nicht weinen und sie lächelt sich die Haut um die Augen in Ritzen/Falten dass du ihr die Freude nicht
glaubst. Du suchst das pelzige Tier in deinem Bett. Ob es in den Spalt zwischen den beiden Matratzen gefallen
ist? Du weißt, dass es eine wollene Haarschicht und Sommersprossen auf der Plastiknase hat und
du es unbedingt wolltest in der Trafik nach ihm gegriffen hast aus dem Wagen heraus an den man dich
geschnallt. Daheim hast du es dann angesehen. Dir hat gegraust.Aber jetzt ist es das Einzige, wonach du
tasten kannst. Es riecht nach paniertem Fleisch und Gulaschsuppe zu dir herein die Großmutter hat den
Spalt offen gelassen damit der Lichtstreifen dir hilft.
Sie steigt die schräge Treppe zum Stockbett hinauf. Die fünfte Stufe von unten wackelt.
Sie hält sich am Geländer fest. Legt sich auf die Matratze und schleift den Körper
bis in die Ecke. Knipst das Licht an. Und dann: Und schnell die Füße unter die
Bettdecke schieben, sie um den Unterkörper zurechtklopfen, an den Außenrändern.
Wärme. Die kleine Lampe taucht das Zimmer in mandarinenfarbenes Licht. Sie
kratzt sich krustige Bällchen aus der Nase, kickt sie dann mit dem einen Zeigefinger
vom anderen weg in den Raum.
Das Zeitungspapier des Vaters knistert, es macht die Geräusche der Nacht und dir stülpen sich Fragen über,
die sich wieder aus dir rausstülpen wollen und du wälzt dich und räusperst dich, damit der Vater weiß,
dass du wach bist und er nicht ins Nebenzimmer gehen kann wo die Mutter am Sofa sitzt und die Farben
des Fernsehers auf ihrem Gesicht flackern und von einer Seite auf die andere, du streckst die Füße aus der
Bettdecke, kratzt dir den Hinterkopf, stehst auf, ein Glas Wasser, noch mal schauen, ob da was in die Toilette
hineintröpfelt, du deckst dich zu, schwitzt, deckst dich auf, und die Hände des Vaters haben braune Flecken
in allen Größen, er faltet die Buchstaben neu und immer wieder neu.
Mit einem Ruck wacht sie auf. Ein Geruch nach Schweiß und Fischigem. In der
Bettdecke gefangen. Ihr ist heiß und kalt. Der Rücken nass, zwischen den Schenkeln
eine kleine Lacke.
Sie bewegt sich nicht. Die Luft feucht. Der Geruch nach Öl. Nur nicht bewegen.
Weiterschlafen. Sonst: Sie müsste die wackeligen Stufen vom Stockbett herunter
und dann auf die kalten Kacheln des Badezimmers und keine warmen Handtücher
und der feuchte, muffige Geruch aus den Ecken.
Jeden Höcker der vielgliedrigen Plastikraupe belädt die Mutter mit Brotstücken. Die butterbestrichen,
mehrschichtig belegt; ein Blättchen Salami oder Käse, ein Gurkenhütchen, eine Olive. Du ziehst die Raupe
den Steinweg im Garten entlang, trippelst an der Sandkiste vorbei. Die Räder machen scheppernde Geräusche.
An den Birkenrümpfen klettern rote Käfer mit schwarzen Punkten hinauf und verschwinden in Höhlen.
Du läufst zu den Stämmen. Zerdrückst so viele du kannst mit den Fingerspitzen.
(Ausschnitt)
[kolik ]