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Gerhard Kofler

Notizbuch über New York aus der Entfernung, geschrieben in einem Starbucks zu Wien (Auszug)

REGENSCHIRMORAKEL
23. Februar 2004

Ich weiß nicht mehr, ob es damals regnete.Wenn ich jetzt daran denke, ist es naß. Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen es fast (oder wirklich schon?) regnete. Es gelingt mir nicht, die ins Vergessen gefallenen Tropfen zu zählen. Ich erinnere mich genau an einen vollkommen blauen Himmel, dann zwei kleine weiße Wolken, und auch ein grauer Himmel, ja. Aber hier beginne ich schon zu zweifeln.Vielleicht ist der vollkommen blaue Himmel eine Erinnerung jenes September 2001 in Ohio und der graue eine Melancholie des heutigen Tages.Vielleicht war der Himmel jeden Tag gemischt, und meine Unterscheidungen sind schon die eines Archivars. Ich werde nicht von Sternen sprechen und von all den weitgestreuten Lichtern, die auf den Tropfen meines Regenschirms, der da in einem schweigsamen Winkel steht, von neuem zu leuchten beginnen. Man weiß nicht, woher die Tropfen der Erinnerung kommen. Doch ohne sie können wir nicht leben. Den Augenblick des Falls festhalten. Absichtsloser Augenblick. So könnte sich Erinnerung bekunden. In der Zwischenzeit trocknen die Regenschirme. Es wird wieder regnen. Ohne Vorhersage.

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DER ZWISCHEN DIAMANTEN UND ROST GLÄNZENDE SCHNEE
10. März 2004

Die Sonne ist zurückgekehrt wie ein Lied von Irving Berlin. Schmelzend zeigt sich der Schnee in seiner strahlenden Agonie. Fern von anderen Einzelheiten verfolge ich dieses Panorama des Übergangs.Wahrscheinlich sind wir an dem Hotel am Washington Square vorbeigekommen. Dem aus dem Lied Diamonds and Rust. Ich sehe jemanden in einer unsicheren Zukunft in Enzyklopädien blättern – oder besser gesagt: klicken, um diesem Zitat auf die Spur zu kommen. Doch dann endet auch mein Taumeln an den Horizonten. Ich kann mir niemanden vorstellen, der in einer Enzyklopädie nach dem Washington Square sucht. Jedenfalls niemand unter meinen möglichen Lesern. Ich gehe nicht auf die Straße, um Antworten zu erwarten, und frage nicht herum, damit die Zeit vergeht. Mehr Zeit vergeht im glänzenden Schnee.

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(Ausschnitt)

[kolik 35]