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Thomas Raab

Therapie

Aus dem Beginn eines Unterhaltungsromans

1 Gruppe

Stellen Sie sich vor: Die Gruppe bestehe aus sieben Personen. Hispanio (28) ist der, der am wenigsten spricht. Die Eltern Hispanios sind bezüglich ihrer statistischen ersten Lebenshälfte seit langem geschieden, hatten nie Einkommensprobleme und, bis zur Scheidung und vier Jahre später noch einmal für ungefähr zehn Monate, durchschnittlich oft Geschlechtsverkehr in drei Variationen. Der Vater ist zum Beispiel Anwalt und eignet eine Bibliothek aus ungefähr 5.000 Beständen, die nicht ausschließlich den Themenbereichen Rechtswissenschaften und Belletristik zuzuordnen sind. Es fänden sich auch Werke zur Geschichte der zivilisierten Welt, Reiseführer, Nachschlagewerke des vom zeitgenössischen Feuilleton erlassenen Bildungskanons und diverse Wörterbücher. Hispanios Vater ist umfangreich gebildet, sagt Hispanio. Die Familie seines Vaters eignet seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Villa im besten Viertel der Stadt namens Döbling. Hier ließe sich trefflich streiten. Hispanios offizieller Taufname, der in all seinen Dokumenten außer dem persönlich gefälschten Presseausweis des Gruppenorgans „Wozu“ aufscheint, ist Herbert.
Als Hispanio eines Morgens aufwacht, steigt ihm, vielleicht noch mit seiner Traumtätigkeit in Verbindung, folgende Vorstellung ein: Ein etwa drei Zentimeter im Durchmesser messender Stuhlgang, sehr hart von der Verstopfung, der sich mühevoll aus dem großartig, wie es heißt, geformten Hintern des Fotomodells Linda Evangelista quält. Linda Evangelista stöhnt laut; mit 28 ist dies ihre erste Verstopfung überhaupt, sonst kotzt sie ja meistens, weiß Hispanio im selben Augenblick. Er schüttelt den Kopf. Es gibt, selten, ein Phänomen, das wohl dem so genannten luziden Träumen zuzurechnen ist, im Zuge dessen man während des Einschlafens oder Aufwachens glaubt, sich gegen schlagartig einbrechende Träume nicht hinwegsetzen zu können, obwohl man zugleich den Eindruck zu haben scheint, wach zu sein und also alles „unter Kontrolle haben“ zu müssen. Diese „Träume“ schieben sich wie „eine Filmleinwand“ vor das so genannte innere Auge, weiß Hispanio im selben Augenblick. Unter luzidem Träumen vermerkt ein Nachschlagewerk aus der Bibliothek von Hispanios Vater, sinngemäß, „Träumen bei gleichzeitiger Gewissheit zu träumen“, wie Hispanio vor für ihn längerer Zeit nachgeschlagen hat. Die von Hispanio geträumte Kotstange Evangelistas wäre demnach, so denkt Hispanio in diesem Moment, ein gleichsam negativ luzides Traumphänomen, war er sich doch gewiss, wach zu sein und die Kotstange Evangelistas so real wie den ihm in diesem Moment ins Auge fallenden Radiowecker zu erblicken. Hispanio schüttelt den Kopf. Er braucht Kaffee. Das Aktivistentreffen beginnt bereits in einer Stunde.
Stellen Sie sich vor: Es stelle sich für die Schreibende, selbst mittelfristig über mehrere Wochen, als äußerst schwierig heraus, dem Ausdruck „Aktivisten“ eine Vorstellung zuzuordnen, die einigermaßen klar, geschweige denn angemessener, ja nicht einmal „origineller“ als die im Feuilleton oft dargelegte wäre. Bereits hier müssen Ansprüche begraben werden, soll das Gebiet der Prosa nicht verlassen werden, was ja im Rahmen ihrer Zeitvorgaben (Nebenjob als Teilzeitprogrammiererin) ohnehin nicht möglich wäre, denkt Caren (28), die Schriftstellerin, die ebenso wie Hispanio jetzt dem Aktivistentreffen zueilt.
Im Zuge dieses Buchs wird sich vom Standpunkt von Hispanios Eltern ein Unglück ereignen.
Das Aktivistentreffen findet im Hinterzimmer des Vereinslokals eines Vereins statt, der die Rechte bestimmter Minderheiten zu fördern bestimmt ist, die ihre Meinung nicht öffentlich genug formulieren zu können glauben. Das Hinterzimmer ist stickig, Fetzen vergilbter Plakate zieren die Wände – hier sollte mal wieder wer ausmalen, würde Hispanios Mama sagen. Mama mag Hispanio, hat sie ihn schließlich geboren. Papa sagt Herbert zu Hispanio, sagt Hispanio jetzt zu Trulla (28), einer Physikerin und Punkrockexpertin, die es immer mit allem gut zu meinen versucht. Mensch, sagt Trulla, Hispanio, dein Vater ist ja wirklich ein Idiot! Genau, sagt Hispanio, ein guter Anwalt allerdings, jedoch nur für Wirtschaftsrecht. Kann nix für uns tun also, meint Trulla fragend. Würde ich nie fragen, antwortet Hispanio, und öffnet exakt zur selben Zeit eine Flasche in einem so genannten Sixpack mitgebrachten Biers der mexikanischen Marke „Sol“.
Innerhalb von circa fünf Minuten treffen von nun an alle Mitglieder der Gruppe ein. Auch verbrauchen sie Kaffee. Ist man wach, so hat man alles unter Kontrolle, so Hispanios Vater, sagt Hispanio. Es gibt, so sage er, der Vater, kaum die Möglichkeit, ohne diese Kontrolle und gleichzeitig mit einem Ziel „vor Augen“ ein bedeutenderes Verbrechen zu begehen, einen Mord zum Beispiel, von dem man finanziell und psychohygienisch profitieren könnte (ungeliebte Eltern, die der Entfaltung der eigenen Individualität im Wege stehen; bahnt sich da ein Erzählstrang an?, fragt sich Caren, die Dichterin). Hier, bei der Kontrolle, dem Wachsein, trennt sich, so der mit Hispanios Vater befreundete Gerichtspsychiater, freier Wille von Automatismus, böse von jenseits des Bösen. „Grüß Gott, Demokratie!“, meint Greg, der das Aktivistentreffen als Letzter der Gruppe erreicht.
Wogegen wird hier in diesem Hinterzimmer aktiviert, wogegen aufgelehnt, konspiriert? Gegen das Verbot, sonntags im Einzelhandel zu arbeiten? Gegen die nicht von wirklich allen Deklassierten geäußerte Überzeugung, dass andere Deklassiertengruppen, z. B. die „schwulen“ Gärtner, die Leistungssport betreibenden Bankangestellten, die Philosophiestudenten, auch wichtig wären für die Gesellschaft, die unter dem Banner des Staatsgrundgesetzes zusammenwachsen durfte? Werfen wir eine Vorstellung ins Treffen!
Stellen Sie sich also vor (schwieriger): Die Gruppe kämpft für die einstweilen erst vorgestellten gemeinsamen Rechte, die sie als Gruppe kraft eines Initiativbeschlusses und nachfolgender Anmeldung bei der Vereinspolizei auch vor der Öffentlichkeit vereinen würden. Doch welche gemeinsamen Rechte sollten das sein? Schließlich vereint diese hier vorgestellte Gruppe nur der Individualismus der einzelnen Mitglieder sowie die willkürlich mittels eben desselben Individualismus in diversen Diskussionen beschlossenen Unterschiede zu jenen anderen Individuen, die von der Gruppe als zu wenig oder sogar überhaupt nicht individualistisch angesehen werden und somit überhaupt gar nicht zur Gruppe gehören können, da es sich um eine individualistische Gruppe handelt. Ein weiterer bedeutsamer Unterschied der wiederum anderen anderen, die potentiell zur Gruppe gehören könnten, ist deren persönliches Fehlen bei der betreffenden, die Gruppe konstituiert habenden Beschlussfassung (nicht öffentlich wirksam) sowie eventuell deren einfache Unkenntnis der Gruppe also solcher und damit der bedeutsamen gesellschaftspolitischen Umschichtungen, auf denen die Gruppe laut Greg (28) „von außerhalb der Gruppe gesehen“ beruht. Greg ist der Philosoph der Gruppe. Ebendiesen Umschichtungen, der Ursache also, müsse man die Anerkennung der Nichtanerkennung gegenüberstellen; deswegen das Treffen. Es gehe, so Greg, um die Auflösung der Partikularinteressen bei gleichzeitiger Betonung der Individualität, wie es der französische Philosoph mit dem D angestrebt habe – offensichtlich ein Paradox, wie Greg hinzufügt. Einstweilen ist man sich einig, dass man als Gruppe zusammenhalten müsse in einer Zeit, in der die eigenen Traumata aus der Kindheit noch nicht allgemein aberkannt, ja bisweilen sogar offiziell therapiert oder in Zeitungen besprochen werden würden.

(Ausschnitt)

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