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Josef Winkler


"Roma, città aperta"

Wenige Schritte vom Eingangstor des Vatikans entfernt, in der Via di Porta Angelica, neben einer lauthals ihre frischen grünen Feigen anbietenden Römerin - "Fichi freschi! vuole! fichi freschi! dai!" - hielt ein kahlgeschorener 50jähriger Mann, der ein weißes Leibchen mit dem Aufdruck "Mafia. Made in Italy" trug, einen an einem Stab aufgesteckten kleinen Plastiknegerkopf in die Höhe und zeigte ihn, immer wieder ein paar Schritte vor- und zurücklaufend, vorbeigehenden, neugierig stehenbleibenden, erschrocken oder amüsiert zurückweichenden Pilgern. Über seinem Hosenschlitz hing an einer feingliedrigen Kette ein rosaroter, großer Kunststoffschnuller, den er immer wieder in den Mund nahm, um grimassenschneidend daran zu lutschen, kauen oder saugen. Den Stock zwischen die Oberschenkel schiebend und mit dem aufgesteckten Negerkopf an seinen Hoden reibend, kreischte er in weinerlichem Tonfall: "Mamma! Mamma!" Mehrere neugierig aus einem im Schritttempo vorbeifahrenden Reisebus herausstarrende japanische Touristen klatschten in die Hände, andere hoben ihre Fujicas. Ihm gegenüber saß mit gefalteten Händen auf einem Zeitungsblatt des Osservatore Romano ein Mann ohne Unterkörper, ein menschlicher Torso mit schulterlangen, rötlich schimmernden Haaren, der nickend seine Hand ausstreckte, wenn ihm ein mitleidiger Passant einen Geldschein oder eine Münze reichte. Hinter seinem Rücken klebte an der Vatikanmauer ein Plakat, auf dem ein maskiert auf einem elektrischen Stuhl sitzendes Kind abgebildet war. Unter den festgebundenen Beinen des Kindes stand mit großen schwarzen Lettern: "150 mila prigionieri politici torturati in Iran." Als ein Mädchen mit schulterlangen Haaren vorbeiging, griff der unterkörperamputierte langhaarige Mann nach ihrer Hand, küßte die in der Sommerhitze hervorstehenden Adern ihres Handrückens, streichelte ihr langes blondes Haar und murmelte mit leuchtenden Augen: "Was für ein schönes Haar!" Als sich zwei Touristen links und rechts vom grimassenschneidenden, seinen Oberkörper hin- und herwiegenden Mann fotografieren ließen, biß er mit aufgerissenen Augen dem aufgesteckten Negerkopf in die roten schwülstigen Lippen und jammerte wieder mit theatralisch schmerzverzerrtem Gesicht: "Mamma! Mamma!" Sorgfältig faltete der Mann ohne Unterkörper unter dem mit einer Ledermaske auf dem elektrischen Stuhl sitzenden Kind seine Geldscheine und schob sie unter den Osservatore Romano, während der halbwüchsige Sohn der Feigenverkäuferin, der lange schwarze, fast seine Wangen berührende Wimpern hatte und ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug, seinem kleinen Bruder immer wieder ein großes Feigenblatt auf den Hinterkopf schlug, bis die Fetzen des zerfledderten Blattes über den kahlgeschorenen Kinderkopf auf die nackten Schultern hinunterrutschten. Mit dem Feigenblattstengel kitzelte der Halbwüchsige das Ohrläppchen eines an einer auseinandergebrochenen grünen Feige saugenden, mit einer kurzen Hose bekleidet aufs Vatikantor zugehenden blonden Mädchens. "Vuole fichi!" rief die Feigenverkäuferin neben dem mit dem aufgesteckten Negerkopf herumfuchtelnden, grimassenschneidend seine Mamma anrufenden Mann auf die Pilger zu: "Fichi freschi! vuole fichi! dai! fichi freschi!"

Ein amerikanischer Reiseführer mit beigefarbenem Strohhut führte eine Touristengruppe auf den Petersplatz, schlug einen großen bebilderten Reiseführer auf und zeigte den Touristen zuerst im Bildband ein Foto vom Petersdom, ehe er mit dem Zeigefinger auf das prächtige, leibhaftige und wahrhaftige Objekt deutete. Eine alte Zigeunerin hockte sich am Petersplatz hinter einer Säule nieder, ließ ihren Urin durch die Unterhose in ihre Handschalen rinnen, besprengte damit ihre leicht angewelkten roten Rosen und bot sie, "Mille Lire! Mille Lire!" rufend, den reihenweise unweit vom Ausgang der Päpstegruft zwischen einem Heiligenkitschladen und einer öffentlichen Toilette an einer Mauer lehnenden, hockenden oder sitzenden, auf ihre Bekannten und Verwandten, auf lange Straßenhosen, Trainingsanzughosen, auch Schlafanzughosen wartenden Vatikanpilgern an. Es ist strikt verboten, mit kurzen Hosen, zu knapper Kleidung, wie es auf einem Schild in mehreren Sprachen heißt, den Petersdom zu betreten. Vor dem Heiligenkitschladen verkaufte eine alte, fast zahnlose Frau lange weiße Papierhosen mit dem grünen Aufdruck "Roma" an die Touristen. Mit mehreren Silbertalern klimpernd, auf denen der Kopf von Papst Johannes Paul II. eingeprägt ist, rief sie, auf den Stapel Papierhosen deutend, den luftig bekleideten Neuankömmlingen zu: "Pantaloni lunghi! diecimila! pantaloni lunghi!" Das Geräusch eines repetierenden Maschinengewehrs nachahmend, zerdrückte ein Junge, der mit der amerikanischen Fahne bestickte Socken trug, laut knacksend eine leere Cola-Dose. Sein kleinerer Bruder - auf seine Socken waren hochspringende, gelbschwarze Tiger eingestickt - schloß seinem verlegen mit altmodischer Leibwäsche bekleideten Vater, der an seinem rechten Unterarm ein Kreuz, am linken Unterarm eine nackte langhaarige Frau eintätowiert hatte, die Ledersandalen. An seinem Wohnungsschlüssel, mit dem er immer wieder gelangweilt klimperte, hing ein kleiner, weinender Kinderkopf aus Lapislazuli. Ein kahlgeschorener, vierzehnjähriger Knabe drückte - der Latz seiner aufgeknöpften roten Lederhose, auf die ein Edelweiß aufgenäht war, hing auf seine nackten Unterschenkel hinunter - seinen Kopf auf das Schlüsselbein eines ein paar Jahre älteren Jungen, auf dessen weitgeschnittenes kurzärmeliges Leibchen der Kopf eines Indianerhäuptlings abgebildet war. Als der größere, der sich offenbar bedrängt fühlte, seinen Arm hob, um den Knaben wegzudrängen, und der jüngere dabei neugierig in seine vor Schweiß glitzernde schwarzbehaarte Achselhöhle schaute, begannen sie beide vor einem verbissen Kreuzworträtsel lösenden und immer wieder mißmutig und eifersüchtig auf die beiden Jungen blickenden Mädchen zu lachen und zu scherzen. Im Vorbeigehen schaute ein schwarzgekleideter Prete mit langem, von seinen Hüften pendelnden Rosenkranz in die weite Hosenröhre eines schönen, schwarzgelockten, Melone essenden, seinen Kopf an die Schulter seines Vaters lehnenden und auf dem Boden sitzenden Jungen hinein, der mit einer weitgeschnittenen Unterhose bekleidet war. Tauben pickten ringsum die braunen Kerne der Melone auf, die der Junge zuerst in seine Hände spuckte und schließlich auf den Boden fallen ließ. Immer wieder wütend und sich empörend, da er mit seinen kurzen Hosen die Peterskirche nicht betreten darf, schlug einer eine Plastikflasche auf sein nacktes Knie, gelangweilt blies sein kleinerer Bruder in eine Plastikflasche hinein und wälzte sie am Asphalt zwischen den auffliegenden Tauben hin und her, und ein ebenfalls wartender, fünfzehnjähriger Knabe in kurzen Hosen, der einen, von seinem Bund gelösten Hosengürtel aus echtem Schlangenleder um seine unbehaarten, nackten Oberschenkel schlang, steckte immer wieder den silbernen Stift des Gürtelverschlußes in die Schlangenaugenlöcher hinein. Unter den Arkaden, zwischen den Steinsäulen, wohl hundert Meter vom Eingangstor der Peterskirche entfernt, schimpfte ein Junge, weil ihn ein Polizist aufgefordert hatte, seinen nackten Oberkörper zu bedecken. Ein neapolitanischen Dialekt sprechendes Nonnenzwillingpaar leckte an den mit Schokolade bestrichenen Zehen eines Eises in Kinderfußform. (Auszug)

[kolik 9]