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E.A. Richter

SCHLÄFER

beinahe unbekannt, meist namenlos,
wenngleich Nachbarn - die Schlafenden
in den Häusern ringsum.

Im Mai überwuchert
Gras und Blattwerk ihre winters
scheinbar offenen Zugänge.

Von meinem Fenster aus kein Licht,
dafür einzelne Körper, die ich vor mich hinleg
in verschieden großen Räumen in den ersten

Stöcken, also in meiner Höhe,
auf Sitzbänken, Betten, Matratzen,
auch in Bodennähe: Kinder, Erwachsene,

Männer, Frauen, eng aneinandergeschmiegt,
zugleich einander sehr fern in einer über alle
herrschenden vegetativen Schlafparadoxie.

Ich baue eine Liegestatt für alle, versammle
sie der Reihe nach darauf, laß sie jäh
in einen Tiefschlaf fallen.

Ich bleib scharfsichtig, zähle sie,
erzähle ihnen ihre Träume,
übersehe ihr ernüchterndes Getue,

betrete sie als Landschaft, die ausgeheckt,
erschreckt und gehegt werden muß,
um in Form zu bleiben. Ich dividiere sie

auseinander, modelliere ihre Gesichter
nach meinem Maß, gebe ihnen klar erkennbare
Konturen, Physiognomien.

Sie haben mich gerufen, ohne es zu wissen.
Ihre grundeigenen Bedürfnisse,
Geschäftigkeit, Hausverstand, Dauerlügen

oder auch Leere, verleugnen sie stets.
Sie können sich vor mir nicht mehr auf Tode
von Verwandten oder Krankheiten ausreden.

Sie können sich nicht mehr wie Verrückte bekreuzigen
oder in Kirchen, Schulen und sonstigen Amtsgebäuden
in den Schoß von Pfarrern, Lehrerinnen oder Rechtssprechern flüchten.

Jemand wird kommen und ihnen die Wahrheit sagen,
barbarischer Akt wie ein Blitz
aus blankem Himmel. Sie drehen und wenden

sich beinahe im gleichen Rhythmus,
schwer atmendes Ballett im Luftwasser,
sind auf einmal blaß, entsetzt, radikal.

Ich kann meine Wiedersehensfreude
auch auf den Morgen verschieben

[kolik 8]