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Peter Turrin

Nachrichten aus Österreich

oder

Was uns bedroht, sind nicht die Ozonlöcher, sondern die Arschlöcher*

Ein Auszug

Verehrte Menschen! Liebe Freundinnen! Liebe Freunde!

Bruno Kreisky, hinlänglich verblichen und daher von allerWelt nachhaltig verehrt, führte in den 70er und 80er Jahren immer wieder Gespräche mit Künstlern, unter anderem auch mit mir. Ich erinnere mich an eine Argumentation von ihm, daß es nicht auf alles eine politische Antwort gebe, manches komme schlicht und einfach aus den Untiefen des menschlichen Charakters. SeineWorte haben mir damals eher mißfallen, weil ich alles für politisch hielt und daher auch alles für politisch lösbar.

Dieser Meinung bin ich heute nicht mehr. Ein Gespenst geht um in Europa, nichts Unmenschliches ist ihm fremd. Es scheint, als sei ein Wettrennen darüber ausgebrochen, wer der größere Feind des Nächsten ist, wer die Schwächeren am besten verhöhnen kann. Der politische Begriff des Rechtsrucks greift zu kurz, hier geht es auch um den Charakter des einzelnen. Ich habe daher meiner Rede denTitel gegeben: „Was uns bedroht, sind nicht die Ozonlöcher, sondern die Arschlöcher“.

Glauben Sie nicht, daß ich aus derWarte des besseren Menschen argumentiere. Die Seele ist nicht nur ein weites Land, dieses Land ist auch voller Widersprüche. Da hocken das Gute und das Böse in ein und derselben Brust erstaunlich nahe beieinander. Die entscheidende Frage, die ich Ihnen und mir selbst stelle, ist doch, auf welche Seite unseres vermischten Wesens wir uns stellen.Verbleiben wir in der Mieselsucht, in der Kleinkariertheit, in der Abschottung gegenüber dem Fremden, in der Ausgrenzung des anderen, bei derVerhöhnung des Schwächeren, also in der Arschlochecke unseres Charakters, oder versuchen wir über uns selbst hinauszuwachsen, indem wir anderen Menschen helfen?

Das ist nicht immer leicht.Wir hatten Flüchtlinge in unserem Haus, fallweise ziemlich viele, und wir hatten sie auf längere Zeit. Manchmal sind sie mir sehr auf die Nerven gegangen. Flüchtlinge entsprechen nicht unbedingt unseren Idealvorstellungen. Sie sind Menschen mit Ansprüchen undWidersprüchen. Und dennoch: Geblieben sind Zugehörigkeiten zu einigen von ihnen und das Gefühl, daß wir einander ähnlicher sind, als wir glauben.

Das Wort Rechtsruck, das wir oft und für vieles im Mund führen, deckt mehr zu, als es aufdeckt.Was sollte an einer rechten Überzeugung, die ich nicht teile, in einer Demokratie so grundsätzlich falsch sein? Und auch die äußerste Rechte, die Freiheitlichen, sind eine Partei im demokratischen Spektrum, zumindest dem Anschein nach. Demokratie, und da bin ich schon beim Thema dieser Veranstaltung, heißt doch wohl, Überzeugungen, Gedanken und Sätze zu ertragen, die einem gegen den Strich gehen. Ich gebe zu, daß mir dies manchmal sehr schwerfällt, aber es fällt mir wiederum leichter, wenn ich daran denke, daß den anderen mein Denken und Sprechen auch Probleme macht.Wir müssen einander aushalten und miteinander reden, notfalls mit gehobener Lautstärke und aller Leidenschaft.Aber dieseWollust der Ausgrenzung, ja derVernichtung, die derzeit gegenüber dem anderen und dem Andersartigen mehr und mehr aufbrodelt, die müssen wir nicht ertragen, die müssen wir bekämpfen.

Eine bürgerliche Partei mit christlichenWurzeln müßte gegen diese neue Barbarei auftreten, sie müßte mithelfen, daß Flüchtlinge wie Menschen behandelt werden und daß ihnen geholfen wird, soweit es irgendwie möglich ist. Man kann durchaus über das Mögliche diskutieren, man muß nicht auf dem Unmöglichen beharren. Eine demokratische Regierung, in welcher Zusammensetzung auch immer, müßte diesem grassierenden Fremdenhaß entgegentreten, doch das explizite Gegenteil geschieht. Beinahe täglich sind von der jetzigen Regierung Vorschläge zu hören, was man den Flüchtlingen noch alles wegnehmen und welche Unterstützungen man immer weiter kürzen könnte. Eine Sozialministerin ist der Meinung, daß ein Flüchtling nicht mehr als 150 Euro im Monat braucht, um überleben zu können. Das ist übrigens laut Statistik jener Betrag, den Hundeliebhaber monatlich für Hundefutter ausgeben.

Sind denn alle verrückt geworden? Hat ein Land wie Österreich, welches in seiner Geschichte alle möglichen Ethnien aufgenommen und zum Nationalcharakter verschmolzen hat und gerade dadurch zu vielen kreativen Großtaten fähig wurde, seine Geschichte vergessen? In meiner Jugend war man stolz darauf, den flüchtenden Ungarn und den flüchtenden Tschechen großzügig Asyl gewährt zu haben, und dies zu Recht. Hat das Arschlochtum, der Rückzug auf die schlimmsten Seiten des Charakters, das sture und stummeVerharren in der eigenenTrägheit, einen Siegeszug durch die österreichischen Lande angetreten?

Dieser Weg in die Erkaltung der Herzen, dieser allerneueste Klimawandel, hat einen symbolischen Anfang und kein absehbares Ende. Anfang der 90er Jahre erfand der deutsche Journalist und Autor Kurt Scheel dasWort „Gutmensch“. Er hatte den Begriff auf grüne Bundestagsabgeordnete gemünzt, die strickend im Parlament saßen und immer alles besser wußten. Damals gab es die ersten Überfälle von Neonazis auf Flüchtlingsheime in Deutschland. Häuser brannten, Menschen starben. Als einige wenige Bürger den Neonazis entgegentraten, wurden sie von diesen als „Gutmenschen“ verhöhnt. Scheel war entsetzt und versuchte, mit allen Mitteln dagegen vorzugehen, vergebens. Der Teufel war schon aus dem Sack.

Seither verwenden immer mehr Rechte in allen Bräunlichkeitsstufen und Mitläufer aller Dummheitsgrade diesen Begriff zur Beschimpfung von Menschen, die gegen Faschismus, Rassismus und Fremdenphobie auftreten, und von solchen, die – zumeist unentgeltlich – in karitativen Organisationen arbeiten. „Gutmensch“ ist zum großen Schimpfwort geworden, als wäre es höchst erstrebenswert, ein „Schlechtmensch“ zu sein.

Am 8. September 2015 geschah in Röszke, einem ungarischen Grenzort in der Nähe Serbiens, folgendes: Die ungarische Kamerafrau Petra László stellte einem syrischen Flüchtling, der ein Kind auf dem Arm trug und vor ungarischen Grenzpolizisten davonlief, ein Bein. Sie filmte die Szene: Der Mann fällt hin, begräbt das Kind halb unter sich, steht mühsam auf, das Kind weint, der Mann flucht.An dieser Stelle brach dasVideo ab. DasVideo kam in die Medien, weltweit. Frau László verteidigte sich damit, daß sie Mutter von zwei Kindern sei und daß sie sich von den Flüchtlingen bedroht gefühlt habe. DasVideo sprach eine andere Sprache. Schließ- lich sagte sie, sie könne sich ihr Handeln auch nicht erklären.

Kurz danach gab es ein anderes Vorkommnis an der ungarischen Grenze. Ein Flüchtlingskind fiel in den Morast, eine flüchtende Gruppe rannte auf das Kind zu. Der ungarische Kameramann Attila Kisbenedek riß das Kind an sich und lief mit ihm zur Seite. Die Menge wäre ansonsten über das Kind hinweggetrampelt. Petra László trat der rechtsradikalen Jobbik-Partei bei. Über das mutige Eingreifen von Attila Kisbenedek wurde in Ungarn geschwiegen.

Umso wort- und tatenreicher wurde die inzwischen staatlich verordnete Barbarei verbreitet.Wer Flüchtlingen in Hinkunft helfen wollte, mußte damit rechnen, vom Staat gerichtlich verfolgt zu werden. Bald war auch in Ungarn von „Gutmenschen“ die Rede, denen man das Handwerk legen müsse. Die Diskriminierung und Kriminalisierung von Hilfsorganisationen nahm immer mehr zu: Die

„Ärzte ohne Grenzen“ wurden diffamiert und bei ihren Versuchen zu helfen behindert. Schiffe, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retteten, durften keine italienischen Häfen mehr anlaufen. Ein österreichischer Innenminister wollte Flüchtlinge in konzentrierte Lager verfrachten. Eine AfD-Abgeordnete antwortete auf die Frage, wie denn dies alles enden solle, mit zwei Worten: „Notfalls schießen.“

Die Höllenfahrt in die Unmenschlichkeit wird immer rasanter: Der Bürgermeister des süditalienischen Dorfes Riace, Domenico Lucano, wurde verhaftet und anschließend in dieVerbannung geschickt. Er hatte in überwiegend leerstehenden Häusern seines Dorfes Migranten untergebracht. Noch im vorigen Jahr hatte Domenico Lucano dafür den Dresdner Friedenspreis bekommen. Matteo Salvini, der italienische Innenminister, vermeldete auf Twitter, diesem Speibkübel für unfeine Herren, er hoffe, die „Gutmenschen“ würden jetzt begreifen, daß es ihnen an den Kragen gehe. Das Wort „Gutmensch“ hat längst sein Herkunftsland Deutschland verlassen. Die „Aquarius“, das letzte private Rettungsschiff, welches Flüchtlinge in Seenot aufnimmt, wird wohl demnächst seine Hilfe einstellen müssen. Panama, unter dessen Flagge das Schiff fährt, hat mitgeteilt, daß es die „Aquarius“ aus ihrem Schiffsregister streichen will.

Im September 2018 starben mehr als 200 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Zyniker der Macht, zu denen ich auch den österreichischen Bundeskanzler Kurz zähle, sagen, es müßten noch mehr Menschen ertrinken, um die Flüchtlinge von einer Flucht über das Meer abzuhalten.

Und in Österreich? An der Entwicklung in diesem Land leide ich besonders. Es ist ja auch mein Land. Als Sohn eines italienischen Einwanderers, welcher nie so recht in der deutschen Sprache ankam und es nicht bis an den Stammtisch der Einheimischen schaffte, habe ich lange genug gebraucht, dieses Land als mein Land zu empfinden. Ich will es mir von einem adrett zugerichteten jungen Mann in der Bundeskanzlerpose und von einer Horde Burschenschafter in Ministerbü- ros nicht mehr nehmen lassen.

Diese Regierung ist politisch phantasielos und frei von Moral. Sie kommt ständig mit dem Anspruch des Neuen daher und ist uralt. Die rechten Regierungen nehmen den Schwächeren etwas weg und geben es den Stärkeren. Unter der lächelnden Maske verbergen sich Postengier und Herzenskälte. Das Rennen um Vermehrung der Kältegrade läuft.

Wie bei einem geplanten Coup ging man arbeitsteilig vor: Jeder hat seine Aufgabe, und nachher teilt man die Beute. Herr Kurz bekam dieWirtschaft und schafft ein echtesWirtschaftswunder für die Reichen, und Herr Strache bekam die Polizei, das Militär, die Geheimdienste und sorgt seitdem dafür, daß wir uns tatsächlich wundern, was alles möglich ist.

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* Rede anläßlich einer Republiksfeier des SPÖ-Parlamentsklubs am 30. Oktober 2018.

[kolik 78]