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Walter Hinderer

„Pneumatische Fetzen - sprache“ oder „Askese der Maßlosigkeit“: Friederike Mayröckers innovative Schreib - weisen

Was ihre Prosa betrifft, so hat Friederike Mayröcker in einem Gespräch mit Siegfried J. Schmidt im März 1983 unmißverständlich bekannt: „Ich will nicht in einem üblichen Sinne erzählen, sondern mich an ein ganz unkonventionelles, unorthodoxes Erzählverhalten annähern, wenn man so sagen kann.“ Nichtsdestoweniger enthält der erste Band ihrer Magischen Blätter folgende relevante Geschichte:

„Mir geht es mit der Poesie so, wie meinem guten alten Zahnarzt aus Polen mit seinem Auto – lassen Sie mich davon erzählen: Mein Zahnarzt, 72 Jahre, stammt aus einem Dorf in Polen und wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Großvater, ein Goldschmied, von den Dorfbewohnern hochgeachtet, wurde nur Moses Eljesa Goldschmied genannt. Immer wenn mein Zahnarzt, damals noch in Polen und dreizehnjährig, von sich sprach, sagte er, ich, Jakob, Enkel des Moses Eljesa Goldschmied. Er wurde Arzt, Zahnarzt und Menschenfreund. Er hielt nichts vom Luxus im allgemeinen und vom Autobesitz im besonderen. Bis zu dem Tag, als ihm ein wohlhabender Freund eines seiner Autos schenkte. Als mein alter Zahnarzt vor etwa fünf Jahren zum erstenmal sein eigenes Auto bestieg, sagte er, wie unvorstellbar, ich Jakob, Enkel des Moses Eljesa Goldschmied, fahre in meinem eigenen Auto. Wie unglaublich, ich Jakob, Enkel des Moses Eljesa Goldschmied, habe ein eigenes Auto. Dies wurde zur Obsession. Heute noch, wenn er sich ans Steuer setzt, sagt etwas in ihm, wie ungeheuerlich, ich Jakob, Enkel des Moses Eljesa Goldschmied, fahre in meinem eigenen Auto. –

Sehen Sie, so ergeht es mir mit meiner Poesie. Ich, ahnungslos aus einer hermetischen Kindheit, ohne besondere Vorzeichen oder Vorzüge, entdecke eines Tages, wie unvorstellbar, wie ungeheuerlich, wie unglaublich : ich schreibe meine eigene Poesie.“

Schreiben ist für Friederike Mayröcker zweifelsohne eine unaufhörliche und existenznotwendige Obsession, die sie schon in aller Frühe an den Schreibtisch treibt, um in einem komplizierten Netzwerk Bilder, Erinnerungen, Ahnungen, Einsichten, Lektürefetzen, Traum- und Gedankensplitter in ihren pneumatischen Sprachkosmos zu verwandeln. Man könnte ihre ungewöhnlich umfangreiche, aber in jeder Beziehung signifikante Produktion in ungefähr vier Phasen gliedern. Sie reichen von einer Nähe zum Expressionismus und Surrealismus bis zu dem Einfluß der experimentellen Dichtung von Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel, dem Lebensgefährten Ernst Jandl und der Wiener Gruppe und führen schließlich zu den Entdeckungen eines originellen und unkonventionellen Erzählens, während sie in der Lyrik eine eher gelöste, lockere Spontaneität entfaltet, die geradezu blitzartig Gedanken, Bilder und Gefühle verbindet. Was Friederike Mayröckers imposante Produktion jedoch jenseits aller feststellbaren Phasen auszeichnet, ist die nahezu magische Art und Weise, wie es ihr gelingt, ihre eigenen Werke, sei es nun Lyrik oder Prosa, immer wieder durch neue Sprachfindungen und Schreibweisen zu übertreffen.

Obwohl schon von der Herkunft her Friederike Mayröcker in die österreichische Tradition gehört, in welcher der Sprachzweifel gewissermaßen zu Hause ist, scheint sie davon unberührt geblieben zu sein. Die Diskrepanz von Sprache und Welt wird sowohl von Wittgenstein als auch von Karl Kraus als Bruch in der eigenen Existenz erfahren. Will der eine in seiner Philosophie die Sprachgefangenen aus ihrem Sprachgefängnis führen, so beobachtet der andere: „Wenn ich nicht weiterkomme, bin ich an die Sprachwand gestoßen. Dann ziehe ich mich mit blutigem Kopf zurück. Und möchte weiter.“

Unser Denken, so argumentierte bekanntlich bereits Friedrich Nietzsche, ist durch ein sprachliches Regelprogramm programmiert –und er merkt ebenso kritisch wie misogyn an: „Die >Verunft< in der Sprache: oh was für alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …“

Solche Kritik geht von der Überzeugung aus, daß in der Sprachstruktur unwiderrufbar und kaum ablösbar eine Weltinterpretation enthalten ist. Die linguistische These „vom sprachlichen Weltbild“, wie sie noch bei Humboldt, Sapir, Whorf und Weisgerber auftaucht, wird gerade im Hinblick auf die Literatur differenziert und um die „syntagmatische Dimension“ erweitert, wie Harald Weinrich in seinen Linguistischen Bemerkungen zur modernen Lyrik einleuchtend aus der Perspektive der Textlinguistik darstellt. Eugenio Coseriu hat in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung der dichterischen Sprache durch die Prager Schule als „entautomatisierte Sprache“ verwiesen, welche die „volle Funktionalität der Sprache“ als solcher „wiederherstellt“. So verstanden wäre Dichtung als „Verabsolutierung der Sprache zu interpretieren“, wobei die Verabsolutierung aber Coseriu zufolge „nicht auf der sprachlichen Ebene als solcher erfolgt, sondern auf der Ebene des Sinnes der Texte“. Je komplexer Texte jedoch angelegt sind, desto schwieriger dürfte es sein, schlüssig eine eindeutige Sinnebene auszumachen.

Wie dem auch sei, Sprachkrise oder Sprachbesessenheit, Zweifel an der Sprache oder die Vorstellung, von der Sprache behext zu sein, scheint, denkt man an Franz Grillparzer, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Broch, Robert Musil auf der einen und dann an die Wiener Gruppe um Achleitner, Artmann, Rühm bis Jandl auf der anderen Seite, trotz allem eine österreichische Spezialität zu sein. Um so erstaunlicher mag es in diesem Zusammenhang erscheinen, daß sich Friederike Mayröcker, wie sie eigens in einem Gespräch mit Robert Stauffer betonte, nie zur konkreten Poesie oder der Wiener Gruppe zugehörig fühlte. Mayröckers Fall ist eindeutig nicht der des Philipp Lord Chandos, dem „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen“ war, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“, dem „alles in Teile, die Teile wieder in Teile“ zerfiel und der darüber klagte, daß sich „nichts mehr … mit einem Begriff umspannen ließ“. Um so erstaunlicher ist es, daß Mayröcker in einem Brief an Lord Chandos, entstanden am 4. Dezember 2001, bekannte, daß auch sie einst von einer solchen Krise heimgesucht worden sei. Sie empfahl dem Lord allerdings das gleiche Heilmittel, das sie von der lästigen Krankheit wirkungsvoll befreit hatte: nämlich den totalen Rückzug auf sich selbst und das Ausblenden aller sozialen Kontakte. Dieses Heilverfahren führte dazu, daß sie keine Briefe beantwortete, nicht mehr ans Telefon ging, worauf sich ihr Zustand von Tag zu Tag zu verbessern begann. Bald darauf fielen ihr am frühen Morgen „ganze Wortgewimmel und Wortgestöber“ ein, „so daß sie mit dem Notieren kaum nachkam“. Immer heftiger begann sich in ihr „die schwarze Stichflamme der Eingebung (Leidenschaft) zu regen“, so daß sie kaum den nächsten Morgen erwarten konnte, der sie „wieder an die Maschine treiben würde“. Es ist in der Tat ein Mahlstrom, der ihre fulminante Schreibexistenz „hin und her schleudert“, wie sie die gleichermaßen unterbewußten und bewußten Energien beschreibt.

Ich will versuchen, wenigstens ein paar relevante Passagen aus dem grandiosen Prosatext mein Herz mein Zimmer mein Name (1988) zu zitieren. Mayröcker inszeniert hier ohne Pause über 314 Seiten einen geradezu atemberaubenden Sprachmarathon, der selbst bei dem Leser einen Lesefuror auslöst. Diese „Schreibarbeit“ ist, wie die innovative figurale Schreibweise im Text nahelegt, „eine Ohrenbetäubung, ein Narkotikum …, gleicherweise Gift und Arzneimittel, wie die Außenwelt, ebenso wie die Außenwelt mir Gift und Arzneimittel ist, ohne Außenwelt keine Schreibarbeit möglich …, erst zerstreue ich alles, dann sammle ich alles ein, ich schreibe mich selber ab, ich komponiere eine bereits vorhandene Partitur, dieser wuchernde Schädel, sage ich, dieser Gangliendschungel, dieses Hirngestrüpp findet eine Entsprechung in diesem unseren wuchernden Haus-Unwesen …“.Außenwelten und Innenwelten, Traumsplitter und Bewußtseinsblitze, visuelle und akustische Impulse treffen sich in der Ich-Gestalt, „im Zentrum“, wo „Gedanken, Gefühle, Vorstellungen … anwesend sind“. Andererseits moniert das Schreibsubjekt gleich wieder die Defizite, die Erinnerungslosigkeit, die Anstrengung, sich „aus jeder Sache herauszuhalten, [sich] abzusetzen“, um ein ungestörteres Fürsichsein zu bewahren. Diese wenigen Stellen illustrieren bereits, wie die kühne produktionsästhetische Verfahrensweise herkömmliches Erzählen negiert und die theoretischen und rhetorischen Voraussetzungen dieser Verfahrensweise gleichzeitig im Text eingeschrieben sind. Es fällt in diesem Zusammenhang das oxymorische Stichwort von der „Askese der Maßlosigkeit“, die alles „Überfließen“, die „göttliche Barbarei“, die Schreibekstase strengen formalen Kontrollen unterstellt. Mit anderen Worten: Maßlosigkeit wird durch sprachliche und formale Askese und Disziplin in Kunst verwandelt. Das geschieht allerdings mit einer traumwandlerischen Sicherheit, wobei das Überangebot von Einfällen, wie die Autorin immer wieder betont, aus dem „Schlafzustand“ kommt, der sich allerdings bereits an der Grenze zum „Aufwachzustand“ und im Übergang zum „Arbeitszustand“ befindet.

Schreiben und Leben sind für Mayröcker Namen eines Begriffs, wobei alle exorbitanten Elemente ihrer Existenz, seien es Bilder, Jugenderinnerungen, Briefe, literarische Texte, alle Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart, zur Sprache gebracht werden. In dem wegweisenden frühen Text Die Abschiede, der zwischen April 1978 und Januar 1980 entstand, wird bereits auf den „innern Aufbau“ und die Schreibart verwiesen, auf die „lebhaften und rhythmisch wiederkehrenden Bewegungsabläufe“. Schon in diesem frühen Text fällt auf, daß poetische Mittel die Prosa aufladen, in Bewegung halten und sich „ins Fleisch der Sprache“ verbeißen, wie es an einer Stelle der Abschiede heißt. Wiederholungen und Varianten von Leitmotiven, was auch Mayröcker mit der Redefigur der „Unterfütterung“ ausdrückt, gehören ebenso zum Repertoire wie die permanente Überlagerung von Sememfeldern. In einer spezifischen Anweisung veranschaulicht der Text das angewandte Verfahren folgendermaßen: „erinnern Sie sich, die düster-reglosen Vögel am Himmel, eine rauhe Zerreißung (von Träne) und niedergeschwätztes Gebot, ganz so wie der Geist Sie mir in Erinnerung (brüllt): brüllend und gurgelnd, vor Besessenheit, müsse die Sprache sein, jeder Satz müsse seine ihm gemäße Struktur aufweisen, geschwänzt gezwirbelt gezwitschert: so eigenwillig müßten die Wortbilder, und raketengleich, in die Höhe schießen, eine Verwandlung von Körper und Seele, ein Zusammenbacken und -kleben, gedankenvolles Stiefmütterchen: oder als wollten sich die Sätze nahtlos und wie von selber aneinanderreihen.“ Extreme Situationen und Sensationen, Grenzbereiche sinnlicher und geistiger Erfahrung, Zustände von Delirien und Halluzinationen werden in den Sprachstrom ebenso eingeschleust wie Alltagserlebnisse, Korrespondenz- und Lektüresplitter, kreative Reminiszensen aus Literatur, bildender Kunst, klassischer Musik und Essayistik. Alle Teile fügen sich zu einer dichten, durchgearbeiteten Partitur, in der sich Begriffe der Traumtechnik wie Verdichtung und Verschiebung von Freuds Traumdeutung ebenso finden wie die von Gotthilf Heinrich Schubert in seiner Symbolik des Traumes projektierte „höher[e] Art von Algebra …, die aber nur der versteckte Poet in unserm Innern zu handhaben weiß“. Polyphone Symbolfelder und Symbolverschachtelungen führen die entgegengesetzten Bereiche, welche ins Netz der Sinne fallen, aufeinander zu. In „solcher Spannung zu leben“, so ruft das Schreibsubjekt im Text aus, „gleichzeitig das Auge ans Nahe zu heften und in die hemisphärische Weite und Ferne zu lenken: sei die (schicksalhafte) Voraussetzung für poetische Erfahrungen und Erkenntnisse überhaupt, wie sie, durch die verzehrende Wahrnehmung der Außenwelt vermittelt, im kalten Feuer einer wahnhaften und süßen Besessenheit von Urform zu Endform gewandelt, schließlich in einer anderen neuen (reflektierenden) Wirklichkeit wiedererstanden erscheinen“. Zu einer „totalen Funktionalisierung von Sprache“ trägt auch die selektive Verwendung oder Aussparung von Satzzeichen bei. Mayröcker zufolge schaffen beispielsweise „die Schrägstriche eine gewisse Distanz zwischen den einzelnen Satzzeichen …, die andererseits durchlässiger ist als die Distanz durch Punkt oder Strichpunkt oder einen anderen Bruch im Satz“. In den Abschieden verwendet sie außerdem häufig den Konjunktiv; er schafft für sie „eine Art Guckkasten, also etwas, was man anschauen kann“. Überdies erlaubt er ihr, „Szenen und Zusammenhänge völlig zu objektivieren“. Aus diesem Grunde habe sie vieles, was sie in der Ich-Form geschrieben, „entschärft“, indem „sie es in die 3. Person und in den Konjunktiv“ versetzte. Wenn Robert Musil seinen Fragment gebliebenen Roman als „Essay von ungeheuren Dimensionen“ bezeichnet, der sich prononciert gegen jede Art von traditionellem Erzählen richte, und die „Geschichte dieses Romans“ dergestalt erläutert, „daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird“, so könnte man das ebenso für Mayröckers Prosaarbeiten reklamieren, die in ihrer kontinuierlichen Reihenfolge ein monumentales Schreibexperiment darstellen, das nicht zur Ruhe und zu keinem Ende kommt. Die aufeinanderfolgenden Teile einer progressiven Universalprosa, um hier die bekannte Formulierung Friedrich Schlegels gezielt zu verändern, scheinen eine romantische Dichtart auf eigenwillige und kreative Weise fortzusetzen, eingedenk der Einsicht, daß „ihr eigentliches Wesen“ darin besteht, „daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann“....(Auszug)

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