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Laura Freudenthaler

Zähne zusammenbeißen

Der Rundgang beginnt an der Wohnungstür. Im Vorzimmer ist die Tür zum Bad, dort stellt sie sich vor den Spiegel und untersucht ihre Kiefermuskulatur. Wenn die Sonne hoch steht, fällt ein wenig Licht durch das Fenster auf die Fliesen. In der Sackgasse unter dem Fenster hat sie noch nie einen Menschen gesehen und das Haus gegenüber steht schon immer leer. Vor den mit Brettern vernagelten Fenstern sitzen die Tauben und putzen ihr Gefieder. Sie würde gerne abends an einem Fenster stehen und warten, bis er auftaucht, ihn beobachten, wie er die Straße entlanggeht, bis er im Hauseingang verschwindet und kurz darauf die Wohnungstür von außen aufsperrt, doch in der Wohnung gibt es kein Fenster, das auf die Straße hinausgeht, in der der Hauseingang liegt. Sie mag die verlassene Sackgasse nicht und nicht die Tauben, die sie besetzt halten. Sie geht durch das Vorzimmer, bleibt kurz im Durchgang zur Küche stehen, der keine Tür ist, sondern ein runder Bogen in der Wand. In der Küche gibt es nur ein kleines Fenster ein wenig über Kopfhöhe, darunter die Sackgasse, gegenüber das Taubenhaus. Sie beißt die Zähne zusammen und geht im Wohnzimmer die Wände entlang bis zum Fenster. Unter dem Wohnzimmerfenster ist ein breiter verwilderter Streifen Natur, daran schließt sich die fensterlose Rückwand eines Gebäudes, das gerade so hoch ist, dass sie den Horizont sehen kann, aber nicht, was dahinter ist. Auf dem Streifen, auf dem das Gras und die Disteln hoch wachsen, kommt immer wieder Schrott zu liegen, ohne dass sie je gesehen hätte, wie jemand ihn ablädt. Autoreifen, die Metallteile eines Bettgestells und dazwischen die Katzen, denen das Stück Land gehört. Als sie in den Süden gekommen ist, hat sie erwartet, hier nicht allein sein zu können. Sie hat erwartet, es würde überall Leben sein und in jedem Gässchen würden Schnüre gespannt sein zwischen den Häusern und darauf würde Wäsche zum Trocknen hängen. Sie hat Lärm erwartet und Stimmen und Geschrei, Hundegebell und zankende Katzen, und sie hat sich auch auf Gestank und Rücksichtslosigkeit eingestellt, aber sie glaubte zu wissen, dass sie dafür mit diesem unbändigen Leben entschädigt würde, auf das sie sich so gefreut hatte. In der Wohnung ist es still. Er bezeichnet seine Wohnung gern als eine Oase im Irrsinn der Stadt. Sie geht durch das Schlafzimmer und tritt auf den Balkon. Der Balkon geht auf den Innenhof hinaus und ist groß genug für einen kleinen runden Tisch und zwei Klappstühle. Der Balkon ist groß genug für sie, um hier zu leben, und er ist der einzige Zugang zum Leben der anderen. In der Mitte des Innenhofs umranden die Pflastersteine einen runden Fleck Erde, darin wächst ein Baum, der noch nicht sehr hoch ist. An einer Wand stehen die Pflanzen der Frau mit der blauen Kittelschürze und im Eck die drei Mülltonnen nebeneinander. Es gibt Bewohner, die ihren Müll morgens hinausbringen, bevor sie zur Arbeit gehen, nur die Alten kommen im Laufe des Vormittags, und spätabends, wenn gekocht wird und die Geräusche aus den Küchen, von den Fernsehgeräten, die Kinderstimmen und die Stimmen der Paare in den Hof dringen, werden die Männer und die Kinder mit den Müllsäcken in den Hof geschickt, und manchmal stehen welche und unterhalten sich, bevor sie wieder in ihre Wohnung zurückgehen. Jeden Vormittag steht sie am Balkon und wartet auf die alte Frau mit der blauen Kittelschürze, die kommt, um ihre Pflanzen zu gießen, Tomatenstauden, Basilikum und Begonien. Seit kurzem wächst in einem großen Topf auch ein Kürbis. Morgens taucht die Sonne hinter dem Haus zu ihrer Rechten auf und bleibt bei ihr, bis sie hinter dem Haus zu ihrer Linken untergeht. Die Sonne steht entschieden links, das Licht ist bereits weich und satt. Wenn es ein normaler Tag ist, wird er bald die Wohnungstür von außen aufsperren. Sie steht am Balkongeländer und befühlt ihre Zähne. Sie tastet ihre Backenzähne ab. An ihrem Zeigefinger rinnt ein Tropfen Speichel hinunter und sie nimmt ihn aus dem Mund und hält ihn in die Sonne. Sie hört, wie die Wohnungstür aufgesperrt wird, und betrachtet ihren glitzernden Zeigefinger. Bis er auf den Balkon tritt, ist der Speichel an ihrer Hand in der Sonne getrocknet. „Hier bist du“, sagt er und stellt sich neben sie ans Balkongeländer. „Du genießt die Sonne, du glückliches Mädchen. Ich bin heute nicht eine Minute aus dem Büro hinausgekommen.“ Er schließt die Augen, hält das Gesicht in die Sonne und seufzt. Sie tastet wieder mit dem Zeigefinger an ihrem spitzesten Backenzahn herum. Als er die Augen öffnet, holt sie ihn schnell aus dem Mund und legt ihn speichelglitzernd aufs Balkongeländer. „Hattest du einen anstrengenden Tag?“, fragt sie und er sagt: „Wenn du wüsstest, wie schwierig die Leute sind. Sei froh, dass du keine Mitarbeiter hast.“ „Oh“, sagt sie, „ich hätte gerne ein bisschen Macht und könnte Untergebene dirigieren.“ Er lacht und nimmt sie um die Hüfte. „Du wärst ein furchteinflößender Chef, mein Mädchen.“ Sie legt die Arme um ihn und wischt ihren Zeigefinger an seinem Hemdrücken trocken. „Mein furchteinflößendes Mädchen“, sagt er an ihrem Ohr.

Er ertrage ihre Taktlosigkeit nicht mehr, sagt er. Sie sind nachhause gegangen, ohne zu sprechen, und schweigend hat er die Wohnungstür aufgesperrt. Er ist in die Küche gegangen, sie ihm nach, er hat ihr den Rücken zugewandt und sie hat gesagt, er wirke bedrückt. Er könne nicht mehr mit ansehen, sagt er, wie sie in ihrer Taktlosigkeit sich unmöglich mache und ihn unmöglich mache. Er sitze daneben und müsse ungläubig mit anhören, was sie von sich gebe, er sitze daneben und könne nicht verhindern, dass sie Ungeheuerlichkeiten produziere, und je- mand müsste ihr beibringen, was ihr völlig fehle, nämlich Takt. Takt habe durchaus etwas mit Musik zu tun, sagt er, Takt bedeute nämlich, das richtige Wort im richtigen Moment zu sprechen und das falsche Wort im falschen Moment zu erkennen und zu vermeiden. Es gehe um den Moment und seinen Charakter, sagt er, es gehe um das Timing, wenn sie so wolle, beim Takt. Aber sie habe doch nur eine Geschichte erzählt, von der sie gedacht habe, dass sie komisch sei, sagt sie, und vielleicht habe sie die falschen Worte verwendet, falsche Nuancen, und das doch nur deshalb, weil die Sprache für sie eine fremde sei. Er sagt, sie solle sich nicht über ihn lustig machen, sie habe nie ein Problem, den richtigen Ausdruck zu finden, und nur wenn es ihr in den Kram passe, dann sei sie quasi schuldunfähig, weil ja die Sprache für sie eine fremde sei, und er würde gerne hören, mit welchen Worten sie Geschichten darüber erzählen wolle, wie er sich in ihrem Land lächerlich gemacht habe, ohne ihn vollkommen lächerlich zu machen. Aber es hätten sich doch alle amüsiert, ruft sie. Selbstverständlich hätten sich alle amüsiert, entgegnet er, nämlich auf seine Kosten. Jeder habe Geschichten erzählt, sagt sie, wie er in einem fremden Land ins Fettnäpfchen getreten sei, aber niemand habe sich über ihn lustig gemacht, er habe das falsch verstanden. Sie solle ihm nicht erzählen, was er wie zu verstehen habe, sagt er, schließlich sei das sein Land und er könne sehr gut beurteilen, wann eine ganze Runde herzlich über ihn lache, im Gegensatz zu ihr, die ihn entweder naiv oder bösartig zum Deppen mache. Sie habe das nicht gewollt, sagt sie, und wenn sie ihn wirklich der Lächerlichkeit preisgegeben habe, dann tue es ihr leid. Sie verstehe immer noch vieles nicht, sagt sie, und heute Abend habe sie sich einfach amüsiert und sei spontan gewesen und immer wieder vergesse sie, dass sie in diesem Land nicht spontan sein dürfe, und tappe in die Falle, wenn sie entspannt sei und sich amüsiere und dabei vergesse, dass sie in diesem Land nicht spontan sein dürfe. Man sei in seinem Land sogar sehr spontan, sagt er, man sei spontaner als sie, aber man habe eben dieses gewisse Taktgefühl, das die Spontaneität überhaupt erst erlaube. Takt sei nämlich, sagt er, per se etwas, worüber man nicht nachzudenken brauche, und sie werde wohl nie Takt entwickeln, weil sie nämlich eine Grüblerin sei. Das Grübeln aber, sagt er, verhindere die Leichtigkeit, die das natürliche Gefühl für Takt auszeichne, und sie komme schließlich aus dem Land der Grübler, weshalb es dort mit der Leichtigkeit nicht weit her sei. Aber es müsse doch schließlich, sagt er, auch in ihrem Land gewisse Verhaltensregeln geben, auch in ihrem Land müsse es doch gewisse Dinge geben, die man tut, und solche, die man nicht tut. Der gute Ton, das sage man doch in ihrer Sprache, zumindest gebe es in ihrem Land also einen guten Ton und er frage sich, ob es da wirklich zum guten Ton gehöre, seinen Mann der Lächerlichkeit preiszugeben. Der gute Ton sei keine Intuition, sondern ein Regelkorsett, sagt sie. Während er an die Arbeitsplatte gelehnt steht, beide Arme hinter sich aufgestützt, hat sie sich auf den Stuhl an der Wand gesetzt. Sie spürt, wie zusammengesunken sie dasitzt, aber sie kann sich nicht aufrichten. In jedem Fall, sagt er, besitze sie kein Taktgefühl, und er trommelt mit den Fingern auf die Arbeitsfläche hinter sich, und er habe keine Lust mehr, sie irgendwohin mitzunehmen und dann danebensitzen und mitansehen zu müssen, wie sie Ungeheuerlichkeiten produziere. Es gehe ihr, sagt er, jedes Gefühl dafür ab, wie man sich in Gesellschaft verhalte, dieses Gefühl könne sie nennen, wie sie wolle, Takt oder Ton oder Schlag. Den Ausdruck gebe es doch in ihrer Sprache, sagt er, jemand habe einen Schlag? Sie sagt, jemand habe einen Hau, und sofort macht sie den Mund wieder zu, denn sie spürt das Weinen, das in ihrem Gesicht sitzt. Die kleinen Arme des Weinens haben sich um ihre Augen gelegt, unter der Haut sitzen die Tränen und warten. Sie schließt den Mund und spannt die Gesichtsmuskeln, um die Tränen zurückzuhalten. Sie beißt sich auf die Lippen und spannt die Halsmuskulatur bis hinunter zum Schlüsselbein. Zwei Dutzend Muskeln bringt sie in Stellung, um das Weinen zu verhindern, aber die Tränen sitzen schon unter der Haut und sind viele und durch ihren Druck lösen sich die feinen Muskeln um die Augen. Als die feinen Muskeln rund um die Augen nachgeben, ist die Spannung nicht mehr zu halten. Ein Muskel nach dem anderen gibt nach, und als sie aufschluchzt, sieht er sie an. Er unterbricht sich mitten im Satz und kommt zu ihr. Er kniet sich vor sie hin und betrachtet die Tränen, die über ihre Wangen und am Unterkiefer entweder weiter am Hals entlangrinnen oder von dort auf die Brust tropfen. Er sagt, sie solle doch nicht weinen, das habe er nicht gewollt, und mit den Fingern fängt er die Tränen auf, die über ihre Wangen rinnen. Er betrachtet ihr Weinen und will ihre Tränen berühren, während sie dagegen ankämpft und vor der Nässe der Tränen erschauert. Er beugt sich nach vorn und küsst ihre Wangen. Er drückt seinen Mund auf ihr Gesicht und sucht mit den Lippen die Tränen. Seine Lippen verteilen die Tränennässe auf ihrem Gesicht. Sie versucht ihre Gesichtsmuskulatur in den Griff zu bekommen. Sie spannt Halsmuskeln und Schultern an, um das Schluchzen zu verhindern, während er seine Lippen über ihre Wangen bewegt und auf ihre Augen legt. Sie muss die Augen schließen und er legt den Mund auf ihre Lider, zuerst auf das eine, dann auf das andere. Sie beißt die Zähne zusammen und presst die Kiefer aufeinander. Von der Kaumuskulatur ausgehend bekommt sie ihr Gesicht wieder unter Kontrolle. Die Spannung im Kiefergelenk greift über auf die oberflächlichen Muskeln rund um die Lippen und an den Wangen. Die Spannung ergreift die feinen Muskeln um die Augen und die Tränen versiegen, das Schluchzen verebbt und der Mund zittert nicht mehr. Er nimmt den Hocker, der im Eck steht, und setzt sich ihr gegenüber, nimmt ihre Hände in seine. Sie muss durch den Mund atmen, weil ihre Nebenhöhlen vom Weinen voller Rotz sind, den sie durch die Nase hochzieht. Sie bräuchte ein Taschentuch, aber er hält ihre Hände in seinen und sieht sie fest an. Er sagt, es tue ihm leid, er habe sie nicht zum Weinen bringen wollen....(Auszug)

[kolik 60]