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Gustav Ernst

Lob der Eigenverantwortung!

Recht so! Seien Sie mündig! Seien Sie eigenverantwortlich! Lassen Sie sich durch nichts beirren! Bestehen Sie darauf! Kämpfen Sie darum! Bedingungslose Eigenverantwortung! Keine Schwächeanfälle, keine Terminschwierigkeiten, keine Ausreden: Eigenverantwortung!

Und das heißt in erster Linie – und seit der Regierungsklausur vom letzten Montag in Böheimkirchen in erweiterter, um nicht zu sagen in verschärfter Form: Seien Sie gesundheitsbewußt! In jedem Moment! In jeder Situation! Auch hier! Seien Sie auf der Hut! Rücken Sie nicht so eng aneinander! Sie da, quetschen Sie sich nicht so aufeinander drauf! Wenn Ihnen kalt ist, ziehen Sie sich wärmer an! Suchen Sie nicht Ihren Nächsten als Wärmeflasche! Halten Sie Abstand! Sie sollen Abstand halten! Wir sind befugt, Ihren Abstand zu überprüfen! Unsere Gesundheitsbeauftragten – sie stehen im Nebenraum bereit! – sind ermächtigt, den Abstand zwischen Ihnen nötigenfalls mit Nachdruck durchzusetzen! Zu Ihrer eigenen Gesundheit! Denn Ihr Nächster ist ein Keim- und Bakterienarsenal! Das wissen Sie doch! Er ist kein Freund Ihrer Gesundheit und somit auch Ihr Freund nicht! Er ist Ihr persönliches Gesundheitsrisiko! Jederzeit ist er fähig, Ihnen schwere gesundheitliche Schäden zuzufügen! Und husten Sie nicht! Wer hat hier gehustet? Hustende haben entfernt zu werden, das wissen Sie! Sie sind eine Bombe der Gesundheitsgefährdung! Und keuchen Sie nicht! Hauchen Sie nicht! Man kann von Ihnen doch erwarten, als mündige Bürger und Bürgerinnen, daß Sie das extrem gesundheitsgefährdende Hinaushauchen und Hinausblasen unterlassen! Widrigenfalls Sie von unseren Gesundheitsbeauftragten dazu ermahnt werden müssen, Ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen und mit sofortiger Wirkung Hauchen und Blasen einzustellen. Sie dort! Wo ist Ihr Mundschutz? Unaufgefordert haben Sie jederzeit unverzüglich Ihren Mundschutz vorzuweisen. Eine weitere Ermahnung zieht, nach der neuen, seit Montag geltenden Gesundheitsverordnung, unweigerlich und unwiderruflich eine Verwaltungsstrafe nach sich. Abgesehen davon, daß sich die Krankenkassen an Ihnen schadlos halten und Ihnen Zusatzbeiträge von empfindlicher Höhe verrechnen. Zum Wohle Ihrer eigenen Gesundheit! Und vor allem: Seien Sie nicht fettleibig! Das ist eine Minister-Verordnung! Unsere Gesundheitsbeauftragten sind berechtigt, Sie, wo auch immer, ob im Betrieb, in der U-Bahn oder im Kaffeehaus, einer genauen Gewichtskontrolle zu unterziehen – und auch hier werden, auf mein Zeichen, Gesundheitsbeauftragte durch die Reihen gehen!, bitte leisten Sie keinen Widerstand, es ist zum Wohle Ihrer Gesundheit! –, um Sie bei einem Übergewicht von besonders gesundheitsgefährdenden Ausmaßen unverzüglich in eine Diätambulanz einzuliefern. Wobei wir, aufgrund der neusten ministeriellen Verordnung, schon bei geringem Übergewicht Einlieferungen in Diätambulanzen vorzunehmen haben. Seien Sie, als mündiger Bürger, als mündige Bürgerin, kooperativ, das erwarten wir von Ihnen, und fügen Sie sich eigenverantwortlich, wenn Sie – möglicherweise überraschend für Sie – mit dem Befund Risikofaktor Fettleibigkeit aussortiert werden. Es ist im Sinne Ihrer Gesundheit! Aber auch im Sinne Ihrer Arbeitsleistung, Ihres Ehe- und Familienlebens. Schauen Sie doch öfter die Fernsehsendung Austria’s Next Topmodel! Eine Sendung, die motiviert. Die, unserer Erfahrung nach, größte Wirkung auf das Ernährungsverhalten junger Menschen hat. Schulvorführungen dieser Sendungen wurden daher vom Gesundheits- wie vom Unterrichtsministerium nachdrücklich empfohlen und sind seit März dieses Jahres per Erlaß der beiden Ministerien sogar Pflicht. Zur Entwicklung eines selbstverantwortlichen Ernährungsverhaltens und eines stabilen Gesundheitsbewußtseins. Und seit neuestem stellen wir auch Einkaufsbeauftragte zur Verfügung. Hilfeleistung in jedem Supermarkt für Ihre Gesundheit! Nehmen Sie ihre Beratung in Anspruch! Es sind höchst qualifizierte und höchst motivierte Einkaufsspezialisten, denen Sie vertrauen können, nicht selten Absolventen der Ernährungswissenschaften der Universität und nicht selten mit Auslandserfahrung. Die genau Bescheid wissen! Die jede Fett- und Cholesterinfalle, jede Zuckerbombe zu identifizieren wissen! Die nicht zu übertölpeln sind, von keiner noch so raffiniert formulierten Produktbeschreibung, von keinem noch so in allen Verkaufstricks geschulten Verkaufspersonal. Leisten Sie ihren Anweisungen, was Sie kaufen sollen und was nicht, eigenverantwortlich widerspruchslos Folge! Und seien Sie kooperativ, wenn Ihre Einkäufe noch vor der Kassa, natürlich noch vor der Kassa!, kontrolliert und gesundheitlich bedenkliche Produkte, solange sie noch nicht verboten sind, aber sie werden bald verboten sein!, aussortiert werden und zurückgegeben! Es geschieht zu Ihrer eigenen Gesundheit und zu der Ihrer Familie!

Und achten Sie auf Ihre Sicherheit! Unsere Sicherheitsbeauftragten werden Sie gerne beraten. Sie können sie überall in der Stadt, in speziellen Fällen auch in Ihrem eigenen Heim, antreffen und sich beraten lassen. Gehen Sie nur bei geregelten Kreuzungen, und da nur bei Grün, über die Straße! Gehen Sie nicht zu nahe an der Hauswand, es könnte etwas herabstürzen. Laufen Sie nicht überhastet, etwa weil Sie noch schnell etwas einkaufen wollen, auf eine automatische Tür beispielsweise eines Einkaufszentrums zu. Die Elektronik der Tür könnte nicht recht- zeitig auf Ihr Näherkommen reagieren und sich nicht rechtzeitig öffnen. Steigen Sie nicht unbedacht vom Gehsteig auf die Straße. Er könnte höher sein als üblich und Sie ins Schleudern bringen und vor einem heranbrausenden Auto womöglich zu Fall. Befolgen Sie diese Regeln in Eigenverantwortung! Unsere Sicherheitsbeauftragten überprüfen stichprobenartig Ihr Sicherheitsverhalten und könnten Sie nötigenfalls geeignetes Sicherheitsverhalten vor Ort öffentlich üben lassen. Und seien Sie achtsam auf den Spalt zwischen Bahnsteig und U-Bahn-Tür, wenn gesagt wird: Bitte seien Sie achtsam, zwischen Bahnsteig und U-Bahn-Tür ist ein Spalt. Und versuchen Sie nicht, nicht darauf achtsam zu sein. Zeigen Sie deutlich, daß Sie darauf achtsam sind. Wir wollen das sehen! Indem Sie beim Aus- und Einsteigen für alle sichtbar einen prüfenden Blick auf den Spalt werfen. Indem Sie mit Ihren Füßen ebenso für alle sichtbar betont sorgfältig und genau gezielt über den Spalt steigen. Unser Sicherheits beauftragter könnte Sie zur Rede stellen. Treten Sie in der U-Bahn auch an die rechte Türe, wenn gesagt wird: Ausstieg rechts, und nicht an die linke. Und steigen Sie auch rechts aus, und versuchen Sie unter keinen Umständen, links auszusteigen. Unser Sicherheitsbeauftragter, in diesem Falls unser auf U-Bahn spezialisierter U-Bahn-Beauftragter, könnte Sie abmahnen und Sie zur eigenen Sicherheit – natürlich auf eigene Kosten – zur Teilnahme an unseren Kursen Lautsprecheranweisungen und U-Bahn-Benützung oder Spezielle U-Bahn-Unfälle und ihre Langzeitfolgen verpflichten. Leisten Sie auch den Ratschlägen unseres Rolltreppenbeauftragten Folge, und seinen Anweisungen zur richtigen, das heißt sicheren Rolltreppenbenützung. Und rauchen Sie nicht im Auto! Telefonieren Sie nicht im Auto! Schalten Sie während der Fahrt das Radio ab. Das könnte Sie ablenken und Unfälle verursachen. Und fahren Sie allein! Unterlassen Sie die Mitnahme von Beifahrern! Vor allem von Kindern! Keine Kinder im Auto! Sie sind die größte Gefahr für Ihre Sicherheit. Sie schreien, toben, wollen das und jenes. Unsere Beauftragten für Verkehrssicherheit sind daher zu jeder Zeit verpflichtet, Kinder aus Ihrem Auto zu entfernen. Rufen Sie unsere Beauftragten zu Hilfe! Parken Sie ein und rufen Sie einen Beauftragten! Er ist berechtigt, die Kinder aus Ihrem Auto zu entfernen und in Gewahrsam zu nehmen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit. Er ist auch berechtigt, sollten Sie sich als Vater oder Mutter dagegen zur Wehr setzen, Sie ruhigzustellen, um die Kinder ungestört entfernen und in Gewahrsam nehmen zu können. Woraus Ihnen zusätzliche Kosten erwachsen würden. Leisten Sie unseren Beauftragten für Verkehrssicherheit keinen Widerstand! Unterstützen Sie sie eigenverantwortlich und zu Ihrer eigenen Sicherheit bei der Entfernung Ihrer Kinder! Sie können Ihre Kinder jederzeit zu Fuß bei der zentralen Kindersammelstelle, wo ausreichend Kindergärtnerinnen, Kinderpsychologen und Mitarbeiter unserer Kriseninterventionszentren für ihr Wohl sorgen, gegen Entrichtung einer Gebühr unversehrt und mit dem Nötigsten versorgt abholen. Ihre Kinder werden es zu schätzen wissen, Ihnen, ihren leiblichen Eltern, zu einer größeren Sicherheit im Verkehr verholfen und Sie vor Unfällen bewahrt zu haben und mit Ihnen glücklich zu Abend essen zu können.

Unsere Sicherheitsbeauftragten sind jedenfalls unermüdlich für Ihre Sicherheit im Einsatz. Wir beobachten Sie laufend. Keine Angst, wir sind laufend über Sie und über Ihr Sicherheitsverhalten informiert. Selbst beim Fernsehen, wenn Sie in Ihrem Fauteuil sitzen und sich sicher fühlen und der Meinung sind, kein spezielles Sicherheitsverhalten mehr zu benötigen, haben wir Sie im Auge. Wir hören und sehen Sie! Unsere Kamera in Ihrem Fernsehgerät ist ständig auf Sie gerichtet. Sie können uns nicht entgehen. Wenn Sie Ihr Gerät einschalten, sind wir mit eingeschaltet und mit unserem auf Sicherheitsvergehen, auf Sicherheitsverhinderung!, geschulten Blick in Ihrem Wohnzimmer präsent. Sie könnten ja mit brennender Zigarette einschlafen, einer suizidalen Stimmung erliegen, oder aus heiterem Himmel den Anwandlungen einer Selbstverstümmelung. Oder einfach nur extrem gesundheitsschädliche Mengen Chips verzehren, ohne es zu merken. Wir merken es. Wir merken alles. Wir sind immer da. Wir schalten Ihnen das Gerät ab, so daß auch Sie es merken. Wir machen Sie aufmerksam. Wir erinnern Sie an Ihre Eigenverantwortung. Zu Ihrer eigenen Sicherheit!

Und um Ihnen bei der Stärkung Ihres Gesundheits- und Sicherheitsbewußtseins zu helfen, liebe mündige Bürger und Bürgerinnen, und Sie bei einer schnelleren Umstellung auf ein effizienteres Gesundheits- und Sicherheitsverhalten zu unterstützen, sind aufgrund besagter Regierungsverordnung folgende Wörter aus Ihrem Wortschatz zu streichen: Zigaretten, inklusive aller Zigarettennamen, Zucker, inklusive aller Süßwarenbezeichnungen, Auto, inklusive aller Autotypen, sowie die Wörter Schweinefleisch, Rindfleisch, Hühnerfleisch, überhaupt alle bislang zum Verzehr bestimmten Tierfleischsorten. Es ist, nachdem die Wörter Migrant, Frau, Körperbehinderte, Putzpersonal sowie die Nennung geschlechtsspezifischer Geschlechtsorgane und türkische Vornamen laut Regierungsverordnung vom Vorjahr im Laufe einer Antidiskriminierungskampagne verboten worden sind – sie wurden durch englische Wörter ersetzt beziehungsweise, was die türkischen Namen betrifft, durch österreichische –, ein weiterer Versuch, mittels Sprachkorrekturen Denk- und Verhaltenskorrekturen voranzutreiben. Als Übergangslösung, damit Sie eigenverantwortlich die Durchsetzung dieser Verordnung in Ihrem eigenen Sprachgebrauch und in Ihrer eigenen Familie trainieren und perfektionieren können, gilt ein Toleranzzeitraum bis Ende des Monats. Danach sind unsere Sprachbeauftragten berechtigt und verpflichtet, jedes Zuwiderhandeln, jedwede Benützung der inkriminierten Wörter und Bezeichnungen nicht nur im öffentlichen Raum, son- dern überall, bei Telefongesprächen, im E-Mail-Verkehr, selbst bei noch so privaten Gesprächen – und Sie wissen nie, wer auf welche Weise mithört, aber seien Sie sicher, wir hören mit! –, zu ahnden und den betreffenden fahrlässigen Wortbenutzer oder mutwilligen Sprachprovokateur zu stellen und, in eklatanten Fällen, auch umgehend in eines unserer mobilen Spracherneuerungscamps einzuliefern. Wir fordern Sie hiermit auf, beherzigen Sie unsere Empfehlungen und Hinweise, mit Ihrer größten Eigenverantwortlichkeit und mit all Ihrer bereits erwiesenen staatsbürgerlichen Mündigkeit! Zu Ihrer eigenen Sicherheit! Zu Ihrer eigenen Gesundheit!

Weitere Gesundheits- und Sicherheitsverordnungen werden in den nächsten Tagen erlassen. Unsere Informationsbeauftragten werden Sie, liebe mündige Bürger und Bürgerinnen, rechtzeitig kontaktieren und zu weiteren Schulungen einladen.

Guten Tag!

[kolik 60]