Martin Kubaczek
HOTEL FANTASIE
Wirklichkeit ist Flucht vor der Kunst
Wenn ich durch die Hügel von Chiba fahre, setzt sich in mir eine Landkarte
zusammen. Es ist eine vage Landkarte aus vielen Einzelkurven, nichts ist verbunden.
Es sind Einzelbilder: Ich erinnere mich an dieses Stück Straße, die
Kurve hinunter in das kleine Tal, die kurze Steigung gegenüber durch ein
Bambusdickicht, in dessen Gestänge am Straßenrand tausende Blätter
bunter Zeitungen geweht sind. Plastikflaschen, Kühlschränke sind hineingeworfen,
Fahrrad- und Motorradwracks, von Schlingpflanzen überwachsen. Ich weiß
nicht, woher diese Menge an Zeitungfetzen kommt - die übrige Strecke ist
frei davon, man fährt über saubere, teppichartige, gepflegte Felder,
oben auf den Hügelkuppen, sattes Grün des Lauchs, der in sekundengenauen
Abständen zwischen tief eingefurchten Kerben steht, die Stengel an die
westlichen Erdrippen gelehnt, vom Wind angeschmiegt; minutiös angelegt,
wie gekehrt wirken die Felder; nur hier, in dem kleinen Bambuswald eine Strecke
wie für Mörder. Nachts schimmern, die ganze Steigung entlang, nur
drei Lampen; oben im Blattwerk des über der Straße zusammenschlagenden
Bambus leuchten sie schwach, ihr Schimmer erreicht kaum die Straße darunter.
Selten, daß ich jemanden zu Fuß hier heraufkommen sehe - einmal
war es ein stummer Mann, älter, der aussah, als ob er in seinem Leben schon
alles Wichtige verloren hätte; daher sein Schweigen, sein Vorbeisehen,
als ich ihm entgegenkam. Ein andermal war es ein Spaziergänger - ein Mann,
eine Frau? - im mittleren Alter, in der Dämmerung vom Hund die Straße
hinaufgezerrt.
Die Straße ist, nur für das Stück der Steigung, in Platten
aus Beton gegossen mit einem Muster wie von Noppen - man hat in den noch weichen
Beton ein Profil aus Ringen gedrückt, deren Rillen den Autoreifen eine
griffigere Oberfläche bieten. Die Straße ist immer in Dämmerung
gesenkt, ein seltsames Stück verbotene Dunkelheit, kaum dringt Licht durch
das dichte Bambusgeschöpf. Direkt nach der Steigung liegt links ein kleiner
Friedhof; das heißt, kein Friedhof im Sinn einer Gräberstätte,
sondern bloß eine Anzahl von Stelen aus Stein, Grabsteine, darunter die
Urnen mit der Asche beigesetzt; die Grabstätte einer Familie oder Sippe
vielleicht, ich bleibe stehen, um die Namen zu lesen, der Ort lädt mich
nicht ein. Unmittelbar danach stoße ich auf die Biegung, die in eine Querstraße
mündet - links ist die Straße gerade, führt unter dichten alten
Bäumen hinaus in eine von Plantagenhecken bezäunte Allee, deren Abwärtsneigung
und leichte Krümmung nach ein paar hundert Metern die weitere Fortführung
der Straße uneinsehbar macht. Ich biege hier fast immer rechts ab - obwohl
ich dann auf eine der Hauptstraßen gerate, die ich sonst vermeide. Aber
hier stehe ich unter mächtigen Kronen einiger alter, irrtümlich erhaltener
Bäume. In einer offenen Zufahrt zu einem alten Bauernhaus raucht in einer
vom Rost durchlöcherten Tonne ein Feuer aus Abfällen von Feldarbeit
- Blätter sowohl als auch Plastiksäcke für Dünger, kleingehacktes
Gezweig, ein gebrochenes Gerät -, ein Hund bellt, niemand ist sichtbar.
Vielleicht geht ein krummer Alter, die Beine kurz und o-förmig, der Rücken
von der Feldarbeit und dem Mangel an Mineralstoffen wie eine Sichel geformt,
unmöglich, noch einmal gestreckt zu werden (und auch ohne einsichtige Notwendigkeit
eines solchen Sich-Aufrichtens, sein Blick gilt immer nur der nächsten
Erde), und ist plötzlich verschwunden, geschlüpft durch eine der Hecken,
lautlos, am Lehmweg mit Stoffschuhen, die über die Waden hochreichen, schwarz
wie tintegetränkt.
Heute abend, beim Fahren am Fluß, ist der Schotter blauviolett; ja, er
geht sogar ins Ultramarin, in ein sattes, gleißendes Tiefblau; ich blinzle,
zucke mit den Augen, lasse es im Blick vorüberhuschen, aber je mehr ich
mich darauf konzentriere oder davon ablenke, desto strahlender wird das Blau.
Der sonst graue Schotter steht im Grün der Grasschöpfe am Damm wie
in Lacken aus hingeschütteter Farbe, als führe ich über Amethyst,
Tausende aufgebrochener Quarzschalen, die in ihrer Farbe schwimmen wie schmutzige
Stücke von Eis im Schmelzwasser der Gletscher.
Über uns kreist ein Helikopter, und aus seinen Lautsprechern übersprüht
er uns mit eindringlichen Rufen: Wählen Sie mich! Wählen Sie mich!
Die Kinder im Kindergarten sehen auf, eines zeigt mit dem Finger; aber sonst
geht alles weiter wie üblich.
Beim Satomi-Park halte ich, um an der Quelle zu trinken. Eine Tafel sagt: Kein
Trinkwasser! Bei eventuellen Gesundheitsbeeinträchtigungen keine Verantwortung
durch die Gemeinde! Die Leute kommen mit Fahrrädern und Kanistern, sie
füllen Wasser aus der Quelle in leere Einwegflaschen ab. Dazu müssen
sie geduldig stehen, bis der gleichmäßig plätschernde Strahl
die Flasche gefüllt hat. Sie verschrauben diese, stellen sie in eine Reihe
zu den anderen bereits gefüllten, öffnen die nächste, dabei sehen
sie beiläufig die Straße hinauf oder hinab, in die Ferne. Unten zieht
der Fluß vorbei, den ich entlangkomme, ich fahre das Stück heran,
steige vom Rad, lehne es an die Felsen. Ich ziehe die Handschuhe von den verschwitzten
Händen, nehme den Helm vom Kopf, lege sie auf die Mauer an der Quelle,
greife nach der Wasserflasche, die schon leergetrunken ist, dehne mich ein wenig
und warte. Gluckernd steigt in seiner Getränkeflasche das Wasser, als sie
voll ist, richtet er sich auf und überläßt mir mit einer kleinen
Neigung, die eine Mischung aus Verbeugung und einem Nicken ist, mit einer Geste
seiner linken Hand, den Zutritt. Ich nicke, beuge mich, wasche mir Gesicht und
Arme, trinke, fülle meine Flasche, während neben uns auf der Straße
der Sportlehrer eine Handvoll Studenten in Paaren die Steigung unter den Bäumen
hinaufsprinten läßt. Im Schatten leuchten ihre weißen Hosen.
Im Großraum der Stadt gibt es eine Kaffeehauskette mit dem Namen DOUTOR
- COFFEE SHOP - doutor "do-to-ru" gesprochen, wobei die Betonung auf
der zweiten Silbe liegt. In diesen Cafés sitze ich und schreibe. Es gibt
zwei davon in meiner unmittelbaren Umgebung; eines nördlich der Station,
eines an deren südlichem Ausgang. Beide haben mehrere Geschosse - unten
ist das Verkaufspult, wo man bestellt und auf einem Tablett seine Bestellung
entgegenimmt. (Es gibt Kuchen, Hot Dogs und Sandwiches zu verschiedenen Kaffeesorten
und Getränken.) Danach kann man beliebig an kleinen Tischen im Straßengeschoß
oder in den oberen Stockwerken Platz nehmen. Niemand stört, niemand fragt,
kontrolliert, man kann so den ganzen Vormittag verbringen, mit einer leeren
Schale Espresso am Rand der Papiere.
Hier sitze ich; das ist meine Werkstatt. Ich trage in dieses Buch ein, was
ich gesehen oder gedacht habe. Draußen ist es sehr heiß, aber das
Café ist gut klimatisiert, die Kühlung weht aus Luftschlitzen an
der Decke, manchmal fast eisig kalt. Das nördlich der Station gelegene
Café ist nicht so überfüllt wie das südlich direkt am
Ausgang gelegene. Das Verkaufspersonal im nördlichen Café ist an
mich gewöhnt, versteht meine Bestellungen nach einmaligem Sagen; aus irgendeinem
Grund gelingt das den Angestellten im südlichen Café nicht. Die
Atmosphäre und die Auswahl der Mitarbeiter hängt ab vom Geschäftsleiter,
in beiden Cafés Damen im mittleren Alter. Die Übereifrigkeit jener
im südlichen Café ist mir unangenehm; das seitliche Kopfneigen zur
Begrüßung - ein stummes erkennendes "Ach Sie! Wir kennen uns,
nicht?" - jener im nördlichen Café wehre ich nicht mehr ab,
sondern erwidere ich mit einem freundlichen Achselzucken. Die Kostproben, die
mir im nördlichen Café aufgedrängt werden, nehme ich höflich
entgegen. Die Punktekarte aus dem südlichen Café - jede Konsumtion
wird gespeichert und soll mit Geschenkversprechen Kunden binden - habe ich bald
weggeworfen oder verloren; man wollte mir eine zweite aushändigen, ich
habe dankend abgelehnt. Im nördlichen Café fragt man mich nicht
mehr danach. Automatisch wird mir kein Zucker mehr zur Tasse gelegt, während
ich im südlichen Café die Verkäufer immer noch verstöre,
indem ich Zucker zurückweise. (Auszug)
[kolik ]