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Gudrun Seidenauer

MASCHINEN.
DINGE.
WÖRTER


Deine Augen, ein Schacht. Du steigst ein, tastest dich von einem Vorsprung zum nächsten, abwärts. Ein federnder Sprung am Ausgang, deine Knie dürften nicht zittern, die Stadt wirst du nach kurzem Fußmarsch erreichen, in einer Nebenstraße unweit des Zentrums wirst du sie finden, sie werden dich erwartet haben, dir vom Fenster aus winken, ihr werdet aufbrechen, dein Gepäck wird bereit stehen, du hast gesammelt, beiseite geschafft über Jahre, man wird dich mit Umarmungen willkommen heißen, ihr werdet die Rucksäcke über die Schultern heben, sie entleeren: Katzenkopfsteine, die sich zu euren Füßen pflastern, sich in der Sonne aufladen. Was eure Augen gesammelt haben über Jahre, wird zu eurer Straße, die darin eingeschlossene Zeit wird aufspringen, zur Reisezeit werden.
Du dämpfst die Zigarette aus, deine Knie zittern noch immer, du verläßt den Pausenraum, auf die Sekunde genau um zehn nach neun kippt die Zeit wieder um neunzig Grad in die Horizontale des Förderbands, tickt im Rhythmus nußgespickter Schokoladeriegel an dir vorüber, die du mit beiden Händen flink parallel zu drehen hast, bis zehn nach vier.
Zwei Meter links von dir eine verglaste Kabine, in der ein metallener Greifarm jeweils sechs Riegel ansaugt und in eine von einem zweiten Band herangeschobene Schachtel plumpsen läßt. Der Rhythmus der nach sechs mal vier vollgeplumpsten Schachteln, die eine Vietnamesin vom Band hebt und auf eine Palette stapelt, ist ein anderer und geht dich nichts an. Was ist Vietnam? Vietnam, unregelmäßig in den Hallen verteilte, zartknochige Gestalten mit ruhigen, undeutbaren Mienen. Vietnam, wiederholst du, fragend drehen sich ein paar Bilder im Kreis: zwei oder drei nackte Kinder, die schreiend und weinend eine Straße entlanglaufen, auf die Kamera zu. Ein junger Mann, an dessen Schläfe eine von unbekannter Hand gehaltene Pistole angesetzt ist. Vietnam, ein giftbestäubter Wald auf einer Kinoleinwand und du in den Kinosessel gedrückt, der Heimweg, wo du anfängst, Erklärungen zu suchen, die werden später als Reisegepäck gelten, meinst du. In den Pausen hockt Vietnam auf den Fersen am Boden, plaudert in einem hohen, gepreßten Singsang. Du bringst der Frau dir gegenüber einen Stuhl aus der Kantine, weil du es nicht erträgst, daß sich Vietnam wie ein an die verschiedenen Bänder und Gabelstapler aufgesplittertes, aber dennoch zusammengehöriges Unbekanntes in deinen Gedanken dreht. Sie setzt sich, lächelt ein Danke. Du bist froh. Diese eine blasse Person, die einen Stuhl braucht. Schwierig ist nur, ihr verständlich zu machen, daß sie dich kurz an deinem Platz ersetzen soll, weil du aufs Klo mußt, Du nimmst sie an der Hand und versuchst einige unbestimmte Gesten und stümperhafte Sätze in der Ausländern gegenüber gebräuchlichen Stummelsprache, die sie nicht versteht, wodurch du sechs schokoladeriegellang Zeit verlierst und mit einer schnellen Handbewegung sich vor der Greifarmkabine auftürmende Förderware vom Band fegst, um der zu befürchtenden Prozedur: - Stau, Bandstillstand, tadelfreudig herbeiwieselnde Vorarbeiterin, breitbeinig und bäuchig herbeischlurfender Mechaniker - zu entgehen. So bist du doch froh, daß Vietnams Platz einige Tage später von einer Einheimischen besetzt wird, mit der es sich diesbezüglich einfacher redet, obwohl das Karussell der paar Bilder im Hinterkopf (in wie vielen Hinterköpfen?) langsam wieder seine Drehung aufnimmt. Du hältst es es an, indem du die mehrsprachigen Aufschriften auf den grüngoldenen Staniolhüllen zu lesen und miteinander zu vergleichen beginnst.
Ein paar Tage später steht es dann still, versteint im Kopf zu Reisegepäck, so wird, muß es sein, Straße, gemeinsamer Reiseweg, ruhige, gleichmäßige Schritte, so kann es nur, wird, muß. Der Herzschlag des Förderbands ausgesetzt, dann. Leg dich an, spar dich hin. Leg einen Schacht an, deine Augen, zum einzig gangbaren Weg.
Der graue Klinkerboden muß gewischt werden, intoniert ein weißer Arbeitsmantel in nördlichem Stakkato, bleckt ein Lächeln, wendet, ab. Während du den groben Lappen aus der scharfen, lauwarmen Lauge fischst und ihn ungeschickt auszudrücken versuchst, ist eine Arbeiterin nähergekommen, bleibt groß, breitknochig, mit in die Hüften gestemmten Armen vor dir stehen: Nein, nix so! So! Mit schnellem Griff entwindet sie ihn dir und zeigt, wie es richtig gemacht wird. Gern kapitulierst du vor ihrem blinkenden Goldzahnlächeln, anstatt der ordnungsgemäßen Handhabe des Putzzeugs beobachtest du ihren Mund. Unter deinen Knien das Vibrieren des Bodens im Stampfrhythmus der Maschinen. Als du dann wischend statt naßspiegelnder Sauberkeit auseinanderrinnende Fußabdrücke und Schmierstreifen um dich verbreitest, lächelt sie dich nochmals an, zufrieden: Du reiches Mädchen, was? Sie scheucht dich einstweilen an ihren Platz vor die schokolinsenspuckende Röhre. Du freust dich über den unerwarteten Wechsel von Schokoriegeln zu -linsen, rezitierst in Gedanken Fetzen eines Baudelairegedichts aus Schulzeiten. Als du bemerkst, daß du die Verse im Rhythmus der schwallweise ausgespienen rosaweißen Zuckerln hersagst, brichst du ab, schaufelst dir den Kopf leer bis zum Pausenzeichen um Viertel nach eins.
Die Neue am Platz neben dir schiebt rasch einige Waffelstücke in den Mund. Darüber bist du hinaus. Niemand sonst nascht hier mehr, der warme Schokoladengeruch klebt auf der Haut, im Haar, jeden Morgen zu Schichtbeginn tauchst du gemeinsam mit den anderen Arbeiterinnen darin ein, von der ersten Treppenstufe hinter den Umkleideräumen an. Du gehst neben zwei Kolleginnen her, die sich in gebrochenem Deutsch unterhalten, eine Türkin und die Goldzahnkroatin, die dich vom Putzen befreit hat, du angelst nach einer Zigarette, lehnst dich an die Wand, schließt die Augen. Verbarrikadiert. Der Einstieg will nicht gelingen. Dein leergeschaufelter Kopf setzt ein Fließband in Gang, kreisförmig verlaufend verbindet es sich mit anderen, von mehreren Seiten sich kreuzenden, streckenweise parallel geführten Bändern, überzieht dein gesamtes Blickfeld. All das der krähenden Kleinkinder wegen, die in Einkaufswagen, inmitten von Lebensmitteln festgezurrt, ihre molligen Ärmchen nach den vor Kassen postierten Süßigkeitsständern ausstrecken. Pappkartonschrift, Neonschrift, Filzstiftschrift leuchten vielfärbig auf den Stirnen. Dann fällt grünes Licht auf die heranrollenden Kleinen mit den braunverschmierten Mündern, als sie zufrieden glucksend auf das Förderband kippen.
Mit einer weiteren Zigarette wappnest du dich gegen den warmen, süßlichen Geruch, der dich in zehn Minuten wieder umfangen wird, siehst einer Kollegin beim Fingernägellackieren zu. Deine Zeit hier wird enden, du wirst verreisen. Die Aussicht darauf macht dir die Lider gläsern, die Augen gefräßig. Gedanken, die austreiben und sich an beiläufigen Gesichtern festhaken. Du bleibst noch eine Weile am Fenster stehen, siehst die bunten Ameisen in den Hallen. Deine Sätze bietest du häufig an, damit dein Kopf nicht kleiner wird, du füllst nach und schaufelst Spuren aus den Gesichtern in deine Worte. Die gelernte Friseuse, der Maturant in den Cordsamthosen, die graubemäntelten, in wattierte Pullover und Handschuhe verpackten Arbeiter in den Kühlräumen, die die gestapelten Schachteln mit Plastikplanen verschweißen, euch zuzwinkern, wenn du mit einer Kollegin hinter die Palletten huschst, und ihr während der Arbeitszeit unter hunderten schwarzweißen Staniolhasenaugen hastig eure Wurstbrote verzehrt. Gute Tiere! Sie schweigen, sagst du, deutest grinsend auf die Hohlfiguren. Die Kollegin nimmt eine heraus und zerdrückt sie zwischen den Fingern. (Auszug)

[kolik 5]