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Andreas Beck

Vorwort

Das Schauspielhaus Wien setzt sich in besonderem Maße mit unserer Gegenwart auseinander und ist weiterhin das einzige Theater im deutschsprachigen Raum, das seinen Spielplan ausschließlich mit Stücken der Gegenwart gestaltet. Heuer hat das Schauspielhaus erstmals zu einem besonderen Projekt aufgerufen: Zehn Autorinnen und Autoren schreiben gemeinsam an einem Projekt – zehn Wochen lang, in zehn Teilen, genauer in zehn Stücken, widmen sich zehn Autorinnen und Autoren den X Geboten.

Das Serienformat, das wir dem Fernsehen abgeschaut haben und das wir in den vorangegangenen zwei Spielzeiten auf sehr unterschiedliche Weise mit Die Strudlhofstiege oder Diesseits des Lustprinzips: Freud und die Folgen (10) entwickelt und durchgespielt haben, sollte dieses Mal stärker durch den Blick und Kunstgriff zehn verschiedener Autorinnen und Autoren geprägt werden. Kein Roman, keine Vita, keine historische Kulisse, kein Zeitabschnitt bildet den Ausgangspunkt dieser literarischen Unternehmung. Auch Auflagen für die Autorinnen und Autoren gab es nicht, es sollte ledig - lich eines der Zehn Gebote als Aufforderung dienen, ein Stück zu entwerfen, das sich mit dem Gebot als solchem – seiner Bedeutung wie seiner Auslegbarkeit – beschäftigt. Dabei ist das Format der Serie auf dem Theater von besonderem Reiz. Schon in den beiden vorherigen Serien war das wöchentliche Stelldichein, das zehn- oder zwölfwöchige Verfolgen einer inhaltlichen Aufbereitung und Pointierung nicht nur vergnüglich, sondern, was Dauer und Aufwand betraf, für alle Beteiligten wie Zuseher eine Tour de Force. Und wieder gilt: Keine Folge kann länger als sieben Tage geprobt werden, keine Folge ist öfter als dreimal zu sehen; es ist die Dimensionierung und Konzentration eines Themas, die das Theater so selten schafft. Hinzukommend darf man sagen, dass sich die beiden vorherigen Serien mit Stoffen beschäftigten, die zwar viele zu kennen behaupten, doch deren Wiederentdeckung oder Relektüre durch den Marathon- oder Staffellauf auf dem Theater selbstverständlich impliziert war. Zwar meint auch die Zehn Gebote jeder durchaus zu kennen, doch stockt man bald, nicht nur was Reihenfolge, sondern auch was inhaltliche Feinheiten betrifft. Bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren haben wir uns im Theater ebenso wie in der Prosa umgeschaut. Viele der Texte stammen von Autorinnen und Autoren, die bereits am Schauspielhaus gespielt wurden, andere waren eingeladen, das Theater nicht bloß als Besucher wahrzunehmen, sondern unseren Spielplan mitzugestalten. Wir haben neben nationalen auch internationale Dramatikerinnen und Dramatiker für das Projekt gewinnen können.

Was aber reizt ein Theater, sich mit dieser ältesten Gesellschaftsordnung unserer Welt auseinanderzusetzten? Es ist einmal mehr der Fakt, eine Vorlage zu haben, die zwar jeder als bekannt, doch gleichzeitig für unterschiedlich relevant erachtet. Es handelt sich zwar um einen der ältesten Gesetzestexte, doch es ist gleichzeitig derjenige, den wir alle am wenigsten befolgen oder sehr rasch zu relativieren bereit sind, egal für wie wichtig wir die Zehn Gebote als Ganzes erachten. Anspruch und Wirklichkeit einer der ältesten und bekanntesten Ethiken zu erkunden, war der Ausgangspunkt zu diesem Projekt. Die Zehn Gebote, individuell dramatisiert, ergeben eine Serie, deren Pluralität sehr diverser Autorenpositionen versucht, aus unserer Zeit heraus die Zehn Gebote nach ihrem Sinn und ihrer Gültigkeit zu befragen.Wie ist es also um einen ethischen Codex bestellt, der im Grunde von keiner Ideologie und Philosophie jemals in Frage gestellt wurde und trotzdem notorisch gebrochen wird? So gilt es einmal mehr zu klären, ob es überhaupt ein Fundament an Regeln gibt oder geben könnte, das in unserer Gegenwart Verbindlichkeit besitzen kann oder vielmehr besitzen sollte.

Darum sind Die X Gebote ein Beitrag, die eigene Verantwortlichkeit neu zu sehen und – wohl möglich – zu überdenken.

[kolik 48]