bestellen

Leopold Federmair

Der begehrliche Blick

Überlegungen zu einer schwulen Ästhetik am Beispiel Josef Winklers

1 Gibt es eine schwule Ästhetik?

Auf diese Frage weiß ich natürlich keine Antwort. Gibt es eine Raucherästhetik? Eine österreichische Literatur? Eine weibliche Poetik? Es gibt Werke von Italo Svevo, Robert Musil oder Ingeborg Bachmann. Soviel scheint sicher zu sein. In Sodom und Gomorrha stellt Marcel Proust die Schwulen in eine Reihe mit den Juden, Vegetariern, Anarchisten, Wehrdienstverweigerern. Bei allen diesen handelt es sich um Sondergruppen innerhalb einer dominanten Gesellschaft – das trifft auf die Raucher, die Österreicher und die Frauen nicht oder nur sehr bedingt zu. Andererseits lehrt schon ein flüchtiger Blick, sei es von innen oder von außen, auf die sogenannten schwulen Szenen, die sich ja heute nicht mehr verbergen müssen wie noch zu Zeiten Prousts, daß diese Szenen eigene Codes, Sprachen, Vorlieben, Ikonen, Kleidungsstile usw. ausgeprägt haben. Was nicht heißt, daß sich jeder, der homosexuell ist, dieser Sprachen und Stile bedienen muß.
Es gibt also eine Literatur von Oscar Wilde, Marcel Proust, Hans Henny Jahnn, Jean Genet, Yukio Mishima, Hubert Fichte, Pier Paolo Pasolini, Josef Winkler – und die Frage ist nun, ob sie als Autoren etwas gemeinsam haben oder nicht. Von den Genannten weiß man, meist durch sie selbst, daß sie homosexuell waren oder sind. Nicht alle haben die Homosexualität in gleicher Weise zu einem Thema oder Anliegen gemacht. Und selbst wenn sie es getan haben, stellt sich die Frage, ob die Sprache, in der sie es getan haben, eine spezifische Differenz aufweist oder nicht; ob sie also besondere Merkmale, die zu den allgemeinen Merkmalen einer Literatursprache hinzukommen oder sich gegen diese wenden, aufweisen oder nicht. In bezug auf Josef Winkler kommt Friedbert Aspetsberger zu dem Schluß, dessen „Position des konträren Geschlechts“ sei lediglich „temporär“ gewesen und von ihm mittlerweile verlassen worden. Bleibend in Winklers Werk und, so habe ich Aspetsberger verstanden, bleibend in der allgemeinen Literaturgeschichte sei die Figur des Vatermörders. Daß Winkler nach den schwulen Verwirrungen seines Frühwerks auf das Wesentliche zurückgekommen sei, auf die Auseinandersetzung mit dem Vater und seinem harten Gesetz, verschaffe ihm erstmals Zugang zum Mainstream der Literatur. Mit der Abkehr von der homosexuellen Thematik gingen dem Autor, so Aspetsberger, nun auch die Pferde des Erzählens nicht mehr durch. Das reife Werk ist abgeklärt, geglättet, beherrscht.
Diese Sorge aufgrund der Abwege, die einen literarischen Sohn von der Hauptstraße der Literatur wegführen, kann ich verstehen. Die schwule Ästhetik, wenn es sie gibt, läuft nämlich eine Gefahr: die Gefahr der Ghettoisierung. Wie es in den Großstädten Lokale gibt, die der Heterosexuelle nicht frequentiert, gibt es auch eine Literatur, die dem gewöhnlichen Leser unbekannt ist, weil sie in besonderen Verlagen erscheint und in besonderen Buchhandlungen verkauft wird. Ein Autor wie Winkler, nehme ich an, will nicht in so einem Ghetto verschwinden. Übrigens genügt ein flüchtiger Blick, ein flüchtiges Blättern, um zu erkennen, daß die Literatur der schwulen Ghettos viel weniger als die der eingangs genannten Autoren, die von einem allgemeinen Publikum gelesen wird, eine eigene Sprache spricht.
Bei Franz Haas ist die Sorge wegen Winklers sexueller Obsessionen noch deutlicher spürbar. In Hinblick auf den Indien-Roman Domra schreibt Haas, und man kann da ein Aufatmen hören: „Die Schilderungen homosexueller Erlebnisse sind selten und vergleichsweise keusch.“1 Winkler hat, so die Wahrnehmung des Interpreten, zum wesentlichen Thema zurückgefunden – nicht zum Vater, nein, sondern zum Tod. (Aber vielleicht ist der Tod der letzte Inbegriff des Vaters, die höchste Autorität, unter der beide, Vater und Sohn, erzittern.) Und mit dieser Rückkehr geht Haas zufolge ein Zugewinn an Realismus, an Objektivität einher: Die alte Egomanie, das ichbezogene Schreiben ist überwunden.
Ich verstehe die Sorgen über Winklers Abwege, aber ich teile sie nicht. Im Gegenteil, mich interessieren diese besonders, und ich glaube, daß sie für Winklers Schreiben wesentlich und daher auch kaum zu „überwinden“ sind. Allerdings muß ich hinzufügen, daß mich nicht nur, nicht in erster Linie die homosexuelle Thematik interessiert und berührt, die einen der wenigen Behälter darstellt, in die der Autor das von ihm eifrig gesammelte Material gibt (der Katholizismus, das Dorf, der Tod, autoritäre Gewalt), sondern eben die besondere Wahrnehmungsweise, die Sprache und die Kompositionstechniken, zu denen Winkler gefunden hat und an deren Perfektionierung er arbeitet. Ich meine nämlich, daß zutrifft, was Proust schrieb und viele andere sagten, daß nämlich der Schwule mit seiner Ästhetik, sofern er eine besitzt – daß also der Schwule mit seiner Wahrnehmungsweise (Aisthesis) und Ausdrucksweise (Semiosis) einen besonderen Fall unter den Sondergruppen darstellt, daß er also die Freimaurer, Juden, Raucher, Anarchisten usw. vertreten und für sie sprechen kann, wie es Winkler ja auch auf der inhaltlichen Ebene seiner Bücher immer wieder tut, wenn er all die Zigeuner, Bettler, Transvestiten, Neger, Krüppel, Sandler mit einer Besessenheit beschreibt, die bewirkt, daß sie seinen Erzählkosmos zunehmend beherrschen. Denn das ist es, was ich schon eher als eine – sehr langsame – Wende in Winklers Schaffen sehe: dieses Sichbreitmachen der Außenseiter anstelle der Dorfbewohner, anstelle der Arbeitstiere und Selbstmörder, der Unterdrücker und Unterdrückten. Winklers Erzähler, ob er nun persönlich in Erscheinung tritt oder nicht, ob er sich mehr auf sich selbst oder auf das Wahrgenommene bezieht, ist einer von ihnen, und zwar nicht als Bettler oder Krüppel oder windiger Marktverkäufer, sondern als Schwuler. Ein „Mitarbeiter“ auf der Piazza Vittorio Emanuele, der dort seine „Schreibarbeiten“ verübt.

2 Inversion, Perversion, Affirmation

Proust nennt die Schwulen „les invertis“, weil er das in seinen Ohren allzu deutsch und pedantisch klingende Wort „Homosexualität“ vermeiden möchte. Außerdem bewahrt das französische Wort etwas von der Bildlichkeit der Verkehrung und kann damit die Überzeugung ausdrücken, die auch Proust teilte, daß im männlichen Körper des Schwulen – Proust bezog sich auf Tunten wie Robert de Montesquiou, den er in der Recherche unter dem Namen Baron de Charlus porträtierte – eine Frau gefangen sei wie in einem Gefängnis, das sie nur unter Schwierigkeiten verlassen könne. Das Wort „Inversion“ ist dem auch im Deutschen geläufigen Wort „Perversion“ verwandt. Offenkundig vermied es Proust, weil ihm dessen abwertende Bedeutung nicht in den Kontext paßte. Die Rede von der Inversion formalisiert aber nicht nur einen schwer entwirrbaren Komplex sexueller Dynamiken, sie verweist zugleich auf die soziale Position des Homosexuellen und auf seine wesentlichen Möglichkeiten, mit dieser Position umzugehen, sie eventuell zu verändern. Das Werk von Jean Genet ist durch Umkehrungsfiguren strukturiert, aber diese Figuren sind den existentiellen Erfahrungen nachgebildet, die der Autor als Kind und junger Mann machte. Die Besserungsanstalt für junge Verbrecher wird bei ihm zum Paradies, weil ihm die Gesellschaft keine andere Möglichkeit läßt, als im Universum solcher Anstalten zu leben. Wenn der schwule Dieb keine Aussicht hat, eine Position innerhalb der guten Gesellschaft zu erringen, dann dreht er den Spieß eben um und erklärt das, was der Bürger als Hölle erachtet, zum Paradies. (Eine ähnliche Umkehrung hat übrigens Jahre später Imre Kertész unternommen, als er das Konzentrationslager, in dem er aufwuchs, zu einem Ort der Geborgenheit und diese Umkehrung zum Angelpunkt seines Romans eines Schicksallosen machte.) Der schmutzige Herumtreiber, dem die Gesellschaft ein ums andere Mal sagt, daß er unheilbar böse ist, sucht sein Heil darin, daß er das Böse und das Häßliche zum Guten und Schönen erklärt.
Die Übereinstimmung mit den Versuchen Nietzsches, die überkommenen Werte umzuwerten, ist meines Erachtens nicht nur verbal. In beiden Fällen wendet sich ein an den gesellschaftlichen Rand gedrängtes Individuum frontal und mit aller Macht und Verzweiflung, die ihm zu Verfügung steht, gegen die Gesellschaft, gegen den historischen Mainstream. Die großen Umkehrungskonzepte Nietzsches konnten sich auf den von ihm vorgesehenen Ebenen nie verwirklichen: Sie konnten nie zu gesellschaftlicher Macht gelangen. Was aber im 20. Jahrhundert geschah, ist die Freisetzung diverser kleiner Umkehrungspotentiale, ein Wuchern von Minderheiten, die Inversionen entfalten, aber nicht unbedingt nach Macht streben. Der Verkehrte weiß, daß er, um das Spiel der Verkehrung zu spielen, auf seine minoritäre Position angewiesen ist. Wird er Teil des Mainstreams, gehen die Voraussetzungen für das Spiel verloren. Führt man Winklers Texte in den Strom der großen Literaturgeschichte mit ihren „erlaubten“, das heißt ödipalen, Themen ein, verlieren sie die Kraft, die sie auszeichnet. Die Motive Winklers bleiben unangenehm: Schleim, Schmutz, Eiter, Blut. Sie stören auch einen Medienbetrieb, der das, was ihm als Pathos erscheint, für obsolet erklärt, weil er die Auffassung vertritt, daß Schleim, Schmutz, Eiter und Blut in der modernen Welt nicht mehr vorkommen.
„So wies ich entschlossen eine Welt zurück, die mich zurückgewiesen hatte“: ein Satz aus dem Tagebuch eines Diebes von Genet, den Josef Winkler in seinem Essay über den von ihm wie ein Heiliger verehrten Autor2 zitiert (beim Besuch an Genets Grab steckt er eine Handvoll Erde wie eine Reliquie in die Tasche). Diese Haltung hat sich Winkler bei seinem Schreiben von Anfang an zu eigen gemacht. Ich glaube, es ist wichtig, zu sehen, daß sie sich auf beides bezieht, auf die Inhalte der Texte und auf ihre Wirkungsabsicht; auf das Erzählte, Beschriebene und Erinnerte einerseits, auf die jeweils gegenwärtige literarische Aktion andererseits. Die autobiographische, nicht völlig frei gewählte, sondern auch durch besondere Umstände bedingte Inversion wird bei Winkler wie bei Genet in die Verkehrungsaktivität des Schreibens hinein verlängert. Im Friedhof der bitteren Orangen, diesem harlekinesken Buch, formuliert Winkler das hier Besprochene auf witzige Weise: „Andere mögen in den Himmel kommen, ich möchte in die Hölle kommen …“3 Für das herkömmliche christliche Denken und noch für das säkularisierte Einheitsdenken zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es selbstverständlich, daß jeder nach seinem hübschen kleinen Paradies strebt. Worin aber besteht das Vergnügen, das in der Hölle winkt? Natürlich im Braten von Päpstebeinen und im Spielen mit deren Knochen.
Auch bei Yukio Mishima spielt die Verkehrung eine entscheidende Rolle. Die Szene mit dem Latrinenträger – Scheißeträger, damit klar ist, worum es hier geht – prägt sich dem Knaben in Mishimas autobiographischem Roman Geständnis einer Maske deshalb so stark ein, weil sie ihn erstmals mit jenem dunklen, zweideutigen Komplex von Gefahr und Analität konfrontiert, der das Ich übersteigt, es schwindelig macht und in Ekstase – das heißt: außer sich – versetzt. Winkler knüpft an diese Szene Erinnerungen an kärntnerische Jauchegruben, in denen regelmäßig Unglücksfälle passieren, und nimmt sie zum Anlaß, den Genuß am Makabren und Schmutzigen – das „kotverschmierte Gesicht des Mörders“ – auszuleben. Das Ekelhafte wirkt anziehend, es ist wesentlich ambivalent: Es muß ekelhaft bleiben, darf nicht gereinigt, auch nicht ästhetisch gereinigt werden, damit es seine Anziehungskraft bewahren kann. Mishima hat eine andere Richtung als Genet eingeschlagen, er hat ausgehend von der Erfahrung der Erniedrigung und der körperlichen Schwäche versucht, einen gewaltsamen Durchbruch auf die andere Seite, ins andere Extrem zu schaffen, das heißt seine Schwäche zu überwinden, um besonders stark und überlegen zu werden. Diesen Durchbruch hat er geschafft, und er hat ihn ästhetisch dokumentiert, mit filmischen und literarischen Mitteln und durch mediale Inszenierungen, die noch seinen Tod zum Gegenstand nahmen. Von der Todesfixierung jedoch, die Winkler mit ihm teilt, konnte er sich nicht lösen, und vielleicht wollte er das auch nicht. Im Geständnis einer Maske entdeckt der Knabe seine Sexualität vor Abbildungen des heiligen Sebastian, der wichtigsten Ikone der Schwulen. Mishimas frühe Lustphantasien sind mit Tod und Gewalt verbunden, mit Grausamkeiten, die er selbst ausübt, während er sich, im wirklichen Leben ein Schwächling, zugleich erniedrigt fühlt. Am Ende seines Lebens, bei seinem letzten ästhetischen Akt, ist er das Opfer (er stirbt nicht von eigener Hand, sondern durch einen jungen Freund), seine Phantasien haben sich auf die unmittelbarste Weise gegen ihn selbst gerichtet.
Die Konzentration auf die Verkehrungsaktivitäten bringt bei Genet und bei Mishima einen je eigenen Ästhetizismus hervor: Wenn alle Werte umkehrbar sind, wenn sich sogar aus Scheiße Gold machen läßt, dann stellt sich irgendwann die Frage, von welcher Position aus man derlei Aktivitäten überhaupt organisieren kann. Gibt es einen Wert jenseits des abendländischen Gerümpels, das so leicht entwertbar ist? Bekanntlich scheiterte Nietzsche an dieser Frage. Mishima und Genet besetzten die freie Position mit dem Schönen, das bei den Umwertungsvorgängen entsteht. In Kinkakuji zerstört der hinkende, krüppelhafte Ich-Erzähler – die autobiographischen Bezüge sind unleugbar – den Inbegriff harmonischer Schönheit, nämlich den goldenen Tempel, in dem er als junger Mönch lebt. In diesem Akt erfüllt sich ein primitiver Rachewunsch auf dem Weg der Sublimation, insofern die Zerstörung durch das Feuer als letzte Überbietung des Schönen erscheint. Die Unterwanderung ethischer Gewißheiten, die die Entfesselung solcher Logiken verhindert hatten, geht einher mit der Verselbständigung und Erhöhung ästhetischer Werte: ein Vorgang, der sich in Europa schon vor der Jahrhundertwende abzeichnete, übrigens in nächster Nähe zur Erschütterung traditioneller geschlechtlicher Konstellationen – ich erinnere an Rilke, an Stefan George, an das androgyne Ideal in der Jugendstilmalerei. Daß Winklers Verkehrungen einen eigenen Ästhetizismus hervorbringen, eine ekstatische Wirkung, die aus dem Verwesenden steigt und einen Genuß erlaubt, der von den sozialen Konflikten, die den Ausgangspunkt bilden, gleichsam erlöst, scheint mir auf der Hand zu liegen. Mir kommt es hier darauf an, den Zusammenhang dieses Ästhetizismus mit der sexuellen Inversion festzuhalten: die Tatsache, daß sich Winklers einerseits so realistische – hyperrealistische, wie gesagt wurde – Prosa in einen Kontext fügt, nicht in einen Mainstream zwar, sondern in die alternative Gesellschaft der Manieristen und Preziösen, der Barocken und Sprachsinnlichen, die in der allgemeinen Literaturgeschichte eine Minderheit darstellt, wenngleich eine starke, im Verlauf des 20. Jahrhunderts beträchtlich angewachsene Minderheit.
Wie die Beschreibungen Winklers dazu tendieren, winzige Ereigniskerne, kleine Monaden, gleichsam Atome seiner Texte zu bilden, die keine „organische“ Erzählung ergeben, sondern nebeneinander koexistieren und sich zuweilen aneinander reiben, neigen seine Reflexionen, die in den frühen Arbeiten häufiger auftreten, in den späteren zurückgedrängt werden, zum Sentenziösen, so daß man zu allen winklerspezifischen Themen eine Reihe von Sprüchen zitieren kann, auch zum Thema des Außenseitertums. Ich beschränke mich auf eine Sentenz, die vorzüglich in die Logik des Verkehrens paßt: „Ich bin ein Gegner. Ich bin gegen das Gebet, aber ich bete. Ich bin gegen die Liebe und gegen den Haß, aber ich hasse und liebe und werde geliebt und gehaßt.“4 Wesentlich für die Winklersche Schreibarbeit ist demnach die Gegnerschaft. Der Gegenstand von Liebe und Gebet, Haß und Blasphemie ist nicht wesentlich, beziehungsweise: Sehr viele Gegenstände, wenn nicht alle, kommen in Frage. Trotz der Umkehrung wird die herrschende Praxis, die vor allem auch eine Sprech- und Schreibpraxis ist, beibehalten: Winkler betet und liebt – mit einem Rilkeschen Wort: Er rühmt. Die positiven Vorzeichen werden allerdings zu negativen; und die negativen Vorzeichen, das wird allzuoft vergessen, werden zu positiven. Die Ersten werden die Letzten sein, aber die Letzten werden auch die Ersten sein. Der Dreck verwandelt sich in Schönheit, der Abschaum wird zum edlen Stoff.
Trifft das auf Winklers Prosa zu? Ich bin mir nicht ganz sicher. Statt nach Gewißheit zu streben, erinnere ich daran, daß derlei Verkehrungen den biblischen Mitteilungen zufolge auch Christus praktizierte: Er begab sich in die Gesellschaft von Kranken und Krüppeln, von Bettlern, Huren und Dieben (die Schwulen, das ist wahr, fehlen in dieser Liste). Ist Josef Winkler, scheinbar ein Mitarbeiter wie alle anderen, der heimliche Heiland der Piazza Vittorio? Oder ihr Satan? Heutige Christen meiden zumeist den Abschaum, manche hassen ihn, wenige riskieren die Berührung. Winkler sucht die Nähe, aber nicht um Barmherzigkeit zu üben, sondern um den Spieß umzudrehen. Nicht um die Schmutzigen zu reinigen, die Kranken zu heilen, die Bösen gut zu machen, sucht er ihren Anblick, sondern um sie in ihrem Sosein mit den Kränzen seiner Aufzeichnungen zu schmücken. Im Grunde ist das eine versteckte, kaum je wirklich gezogene Konsequenz des Evangeliums. Die Inversion, auf die Setzungen einer immer noch herrschenden Moral fixiert, an der sie sich abarbeitet, erweist sich zuletzt – aber wo und wann kommt dieses Ende? – als affirmativ.

(Ausschnitt)

[kolik ]