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Sama Maani

Der Heiligenschein-Orgasmus oder
Die Erblondung

Mein Leben in Zürich begann mit einer Lüge. Unmittelbar nach meiner Ankunft im Züricher Hauptbahnhof hatte ich im Café „Les Arcades“ einen entkoffeinierten Café crème bestellt, als sich eine dunkelhaarige mittelalte Frau mit Aktentasche, eine Züricherin, wie ich annahm, an meinen Tisch setzte. Die Züricherin mit der Aktentasche lächelte mich in der mir damals fremden freundlichen, aber unaufdringlichen Art der Züricher Menschen an und fragte mich im Hochdeutsch der Deutschschweizer, wo ich denn herkäme. Ich wurde puterrot im Gesicht und starrte eine Zeitlang wie ratlos auf die schmutziggelbe Stuckdecke des Bahnhofcafés.
Schließlich begann ich, anfangs leise und wie verschämt flüsternd, zu erzählen. Mein Vater, behauptete ich, sei aus dem indischen Bhopal und nach der Gründung Pakistans dorthin geflüchtet. Von Pakistan sei er nach Großbritannien, von Großbritannien nach Irland, von Irland nach Deutschland, von Deutschland nach Holland, von Holland nach Belgien, von Belgien nach Luxemburg, von Luxemburg nach Frankreich, von Frankreich nach Italien, von Italien in die Schweiz weitergeflüchtet.
Wo ich selbst herkäme, sei ich nicht sicher.
Warum mein Vater von Pakistan nach Großbritannien, von Großbritannien nach Irland, von Irland nach Deutschland, von Deutschland nach Holland, von Holland nach Belgien, von Belgien nach Luxemburg, von Luxemburg nach Frankreich, von Frankreich nach Italien, von Italien in die Schweiz weitergeflüchtet sein sollte, fragte mich die mittelalte dunkelhaarige Züricherin mit der Aktentasche nicht. Vielleicht dachte sie: „Manchmal flüchtet einer und kann das Flüchten einfach nicht lassen.“
In Großbritannien, fuhr ich fort, hätte mein Vater meine Mutter kennengelernt, eine Österreicherin aus Bregenz, in Großbritannien wäre ich gezeugt und in Irland zur Welt gebracht worden – dann wäre ich mit Mutter und Vater über Deutschland und Holland und Belgien und Luxemburg und Frankreich und Italien in die Schweiz weitergeflüchtet.

Die Wahrheit ist: Beide meine Elternteile kommen aus Persien und verbrachten mich mit zwölf Jahren ins österreichische Graz.

Meiner österreichischen, aus Bregenz stammenden Mutter wegen, im Grunde wegen meiner österreichischen Großmutter, wohnhaft in Bregenz, setzte ich meine Lüge fort, würde ich das Schweizerdeutsche beherrschen. Jedoch würde ich es strikt ablehnen, das Schweizerdeutsche zu sprechen – es hätte mit mir und dem Schweizerdeutschen so seine Bewandtnis. Ich hätte nämlich, behauptete ich weiters, einen guten Teil meines erwachsenen Lebens in der Türkei und in Persien verbracht. Die vier Länder, in denen ich also mein erwachsenes Leben verlebt hätte, miteinander vergleichend – Persien, Österreich, die Türkei und die Schweiz –, wäre mir klar geworden, daß zwischen der Schweiz und Österreich ein viel größerer Unterschied bestünde als zwischen Österreich und Persien auf der einen, der Schweiz und der Türkei auf der anderen Seite. Das Schweizerdeutsche zum Beispiel, behauptete ich, klinge wie Türkisch. Wie das Türkische, fuhr ich fort, während die ratlosen Blicke der Züricherin zwischen meinen Lippen und der Schaumkrone ihres Cappuccinos hin und her pendelten, sei für mein an das weiche Persische und das weiche Österreichische gewohnte Ohr das Schweizerdeutsche rauh, roh und kantig. Wie die Türkei als Ganzes mit Persien als Ganzem verglichen sei die Schweiz als Ganzes verglichen mit Österreich außerordentlich simpel. Wie Bartstoppeln verglichen mit weichen Barthaaren, behauptete ich weiters, während die Züricherin wortlos aufstand, ihre halbvolle Cappuccinotasse zurücklassend an die Theke ging und bezahlte, fühlten sich im Vergleich zu Persien und zu Österreich die Türkei und die Schweiz an. Daher bräuchten, brüllte ich, während sie hastig und im Laufschritt das Café verließ, der dunkelhaarigen Züricherin nach, die Schweiz wie auch die Türkei zum Ausgleich für ihre außergewöhnliche Schlichtheit und im Unterschied zu Persien und zu Österreich einen Artikel.

Über die Türken sagt mein väterlicher Freund Giw, sie seien als Nation zu jung und zuwenig oft gedemütigt worden. Hingegen sei das von den Höhen der Geschichte immer wieder auf die Schnauze gefallene Persien, so mein väterlicher Freund, seit jeher immer wieder gedemütigt worden, was die Perser geprägt habe, so daß sie das Sprichwort

Nardeban in Djahan oftadanist,

zu deutsch:

Die Welt ist ein einstürzender Neubau,

hervorgebracht hätten. Die Türken hingegen hätten kein solches Sprichwort hervorgebracht, wie überhaupt, so mein väterlicher Freund Giw, die Fähigkeit, Sprichwörter hervorzubringen, bei den Türken nicht existiere.
In persischen Witzen, so Giw, seien die Türken immer die Esel, obwohl die Türken, wie mein väterlicher Freund meint, für Jahrhunderte Persiens Brücke zum Westen waren und die türkischstämmigen Perser im Persien der Jahrhundertwende die demokratische Revolution angeführt hätten, wie überhaupt die türkischstämmigen Perser, die Aserbaidschaner, so mein väterlicher Freund Giw, in Wahrheit hochintelligent seien und zu Recht die intellektuelle Elite Persiens stellten. Die türkischstämmigen Perser, sagt mein väterlicher Freund Giw – und wird dabei jedesmal rot und wütend im Gesicht – seien in jedem Fall intelligenter als die nichttürkischstämmigen Perser, die über die türkischstämmigen Perser Witze erfänden.
Giw, mein väterlicher Freund, stammt selbst aus dem exsowjetischen Aserbaidschan – von daher ist er eigentlich Türke. Trotzdem fühlt er sich in jeder Hinsicht als Perser und schimpft bei jeder Gelegenheit, die er findet, so lange über die Türkei und über die Türken, bis ein anwesender nichttürkischstämmiger Perser ihm zustimmt. Dann ist mein väterlicher Freund Giw beleidigt und verstummt für längere Zeit.

Mein väterlicher Freund Giw ist Privatgelehrter und Philosoph, in den sechziger Jahren und in den siebziger Jahren studierte Giw Bauingenieurwesen im österreichischen Graz und war politischer Aktivist, Kommunist, Maoist, in den siebziger Jahren brach er das Bauingenieurstudium ab. Mein väterlicher Freund Giw ist siebenundsechzig.
Bei meinen Treffen mit Giw stelle immer ich alle Fragen. Stelle ich meinem väterlichen Freund eine Frage, öffnet er immer den Mund und formt mit seinen Lippen ein O, ein flaches O, als ob er schon Anstalten machte, etwas zu sagen. Zuerst einmal sagt mein väterlicher Freund aber nichts, hält bloß die Hände vor seinem Bauch, wie beim Gebet die Mohammedaner, mit nach oben gerichteten Handinnenflächen und seitlich aneinandergepreßt. Dann führt er die Hände rasch auseinander, richtet beide Zeigefinger nach oben, beugt den Kopf weit zurück und läßt ihn wieder in die Vertikale zurückschnellen. Wenn mein väterlicher Freund dann zu reden beginnt, rasend schnell, wie man es von ihm gewohnt ist, aber umständlich und gewunden, habe ich den Mund immer weit offen, und während seiner umständlichen und gewundenen Rede wird mein Kopf immer schiefer. Obwohl ich das meiste, was Giw, mein väterlicher Freund, umständlich, wie man es von ihm gewohnt ist, und gewunden von sich gibt, nicht glaube, lasse ich seine Worte und Sätze und die Bewegungen seines Gesichts ohne jeglichen Widerstand in mich hinein, mit weit geöffnetem Mund und mit schiefem Kopf, wie gesagt – so hat sich über die Jahre mein Geist mit den Worten und Sätzen meines väterlichen Freundes Giw so sehr gefüllt, daß sie ihn heute von oben bis unten und vollständig ausfüllen. Da aber die Worte und Sätze meines väterlichen Freundes außerordentlich bedenkliche Worte sind und außerordentlich bedenkliche Sätze, geben mir Giws Worte und Sätze beständig zu denken. Seit Jahren geben mir die mich von oben bis unten ausfüllenden Worte und Sätze des Giw beständig zu denken – in meinem Geist findet sich nichts als Giws Worte und Sätze und mein ständiges Bedenken von Giws Worten und Sätzen.
Am meisten zu denken, obwohl ich das meiste, wie schon gesagt, was Giw von sich gibt, gar nicht glaube, geben mir seine Worte und Sätze über das Österreichische und Österreich. Die Österreicher, pflegt Giw, mein väterlicher Freund, zu sagen, würden uns hassen, die Österreicher, so mein väterlicher Freund Giw, würden uns auf eine perfide, weltweit einzigartige Art verachten und hassen – die meisten Österreicher, so mein väterlicher Freund, hätten den Faschismus im Blut.
Jedesmal wenn mein väterlicher Freund Giw erklärt, die Österreicher würden uns hassen, frage ich: Wen uns? Und mein väterlicher Freund Giw antwortet: Uns schwarzhaarige Ausländische. Die Österreicher, zumal die österreichischen Faschisten, so Giw, würden uns schwarzhaarige Ausländische verachten und hassen, jedoch hätte, behauptet mein väterlicher Freund, obwohl ehemals Kommunist, Atheist und Maoist, der Herrgott es so eingerichtet, daß die österreichischen Frauen, Faschistinnen wie Nichtfaschistinnen, uns männliche schwarzhaarige Ausländische wie zum Ausgleich heftig begehrten.
Wie es den Österreicherinnen, wie mein väterlicher Freund Giw behauptet, möglich sein sollte, uns männliche schwarzhaarige Ausländische zu hassen und gleichzeitig heftig zu begehren, vergesse ich jedesmal, Giw zu fragen. Vielleicht denke ich: „Manchmal haßt und verachtet man, gerade weil man heftig begehrt.“

(Auszug)

[kolik 28]