Olga Flor
Wiederkehr
Er öffnet mir die Tür. Er ist geschrumpft. An mir kann es nicht liegen.
Ich wachse schon seit längerem nicht mehr. Komm rein, sagt er. Er steht
im Dämmerlicht der Vorhalle, das seinen Schatten schluckt. Die ganze Vorhalle
sein Schatten. Das alte, schwere Haus ist kühl. Er geht auf mich zu, wischt
die Hand an der Küchenschürze ab, umarmt mich, ich beuge mich hinunter,
sein Hinterkopf zeigt kahle Stellen. Komm rein, sagt er. Er tritt einen Schritt
zurück, wieder den Stoff in Händen, die unablässig daran reiben.
Lass dich anschauen, sagt er. Er greift nach meinem Koffer, lass nur, sage ich,
ich mach das schon. Oh, weißt du, sagt er, so alt bin ich noch nicht.
So habe ich das doch nicht gemeint, sage ich, er lächelt nur, stellt den
Koffer ab, greift nach meiner Jacke, hängt sie auf einen Haken; dann dreht
er sich um, die Haltung ist nicht mehr dieselbe, der Oberkörper gibt sich
noch den Anschein der früheren Form, doch der Rücken krümmt sich
vorsichtig, als ob es keiner merken sollte, dass er damit anfängt. Ich
habe dir dein Zimmer hergerichtet, ich hoffe, sagt er, das ist dir recht. Setz
dich erst einmal hin, ich komme gleich, sagt er. Ich gehe folgsam ins Wohnzimmer,
in die Tiefe des Hauses, wo viergeteilte Scheiben die engen Fensterlaibungen
verschließen. Ich setze mich auf die Couch, in die man viel zu tief einsinkt,
und starre auf die Wand, über deren buttriges Weiß ich die dunklen
Nachbilder der Fenster jage.
Er hat Mutters Bild von der Wand genommen, du hast das Bild abgehängt?
Wo, sagt er, welches Bild, hier war nie ein Bild, doch, sage ich, Mutter war
da, nein, sagt er, er lacht, du irrst dich. Mutters Bild steht in der Küche,
ich würde es nie an die Wand hängen, ich nehme es gern in die Hand,
weißt du, und schaue es aus der Nähe an; vielleicht hat er Recht,
ich sehe ihn mit ihrem Bild durch das Haus gehen, das sie eingerichtet hat,
er wird stolpern, die Möbel legen Fußangeln aus, diese steifen, schweren
Stücke mit wuchtigen Schwüngen und glänzenden Oberflächen
waren ihre Mitgift, pass auf, schreie ich, du wirst noch hinfallen. Was ist,
ruft er aus der Küche, hast du was gesagt, nein, sage ich, du musst dich
täuschen.
Das war gestern. Dann habe ich mich hingelegt, du wirst müde sein, hat
er gesagt, ich habe gelächelt, dabei war ich nicht wirklich müde,
eher ein wenig überfordert von seiner Anteilnahme, seiner Fürsorge,
begierig, mich auszustrecken und zu schweigen. Aus dem Fenster habe ich gesehen,
einen alten, vertrauten Ausblick gehabt, auf den Baum, dessen nächstgelegene
Äste gekappt worden sind, als hätten sie nach dem Haus greifen wollen.
Die hellen, runden Schnittflächen leuchten in der Nacht. Ich bin aufgestanden,
ich habe ein paar Kleidungsstücke aus dem Koffer genommen, der geöffnet
am Boden liegt. Er hat Frühstück gemacht, ich habe ihm geholfen, das
Tablett ins Wohnzimmer getragen, die Teller verteilt und die Tassen. Hast du
gut geschlafen?, fragt er. Ja, sage ich, danke, das Bett ist hart, die Decken
warm, man kann das Fenster offen stehen lassen und friert nicht. Und dabei so
leicht. Man spürt sie kaum. Ja, sagt er, ich weiß. Ich habe lange
suchen müssen. Na dann, sagt er, richte dich erst einmal häuslich
ein, lass dir ruhig Zeit, ich muss jetzt weg, was besorgen, und am Nachmittag
unternehmen wir dann was zusammen, ja, wir gehen spazieren, wenn du willst,
vieles in der Stadt ist schöner geworden, du wirst sehen.
Am Nachmittag gehen wir hinaus, die Straßen trocken, klar die Luft, es
stimmt, die Häuser sind frischer geworden, das Viertel hat sich verjüngt
in der Zeit, in der ich fort war. Die winzigen Vorgärten, zu klein, um
benutzt zu werden, bunt und eingekränzt von Eisenzäunen, deren Türen
mit Ketten gesichert sind, trotzen der Jahreszeit, halten ein munteres Bild
aufrecht, solange es geht. Er geht langsam, viel zu langsam für mich. Er
bleibt stehen, was ist?, frage ich, er zögert, was sagst du?, fragt er.
Es gelingt mir nicht, den Ausdruck seines Gesichts im Gegenlicht zu erkennen,
so sehe ich an ihm vorbei, zu dem Haus hinter ihm, das da steht, als wäre
es schon immer ein Teil dieses Hintergrundes gewesen, dabei weiß ich doch,
dass da eine Lücke war, eine hässliche Leerstelle des Straßenzuges,
die aufgefüllt hat werden müssen mit ebendiesem Haus. Das Haus ist
eine vollendete Tatsache. Vollendete Tatsachen sind die besten Argumente, sage
ich. Es hat sich verändert, sagt er, nicht wahr; er hat sich mir genähert.
Es wiederholt sich, sage ich. Wie?, fragt er. Er mustert mich kritisch. Ich
sage nichts, vom Dachfirst löst sich eine Taube, lässt sich in die
Luft fallen, beschreibt einen Bogen, steigt auf. Sein Blick haftet an mir. Hier
gehe ich jeden Tag, sagt er, ich bemerke jedes erste Anzeichen von Bautätigkeit,
ich beobachte den Verlauf der Ausbesserungsarbeiten, ich sehe die kleinen Veränderungen,
die zwischen den Tagen passieren, um zu einem Ziel hinzuführen, das nie
ganz erreicht sein wird. Ich freue mich daran, sagt er, weißt du, als
alter Mensch hat man wenige Freuden, red doch nicht so, sage ich. Es hält
mich in Bewegung, sagt er. Es wird immer schöner. Dann geht er weiter,
verfällt wieder in seinen gemächlichen Rhythmus, dem ich mich kaum
anpassen kann; ich bin größer als er, meine Schrittweite ist länger.
Ich bin über ihn hinausgewachsen, wie das häufig vorkommt bei Nachkommen.
(Auszug)
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