Thomas Ballhausen
30 Übungen für den Ernstfall
„Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, daß nichts jemals existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt: ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären. Was also bleibt Wahres übrig? Vielleicht nur dies eine, daß nichts gewiß ist.“ René Descartes: Über die Natur des menschlichen Geistes
(1)
Das Aufwachen macht Mühe, machte es immer schon, denkt er sich, als er aus traumlosem Schlaf aufwacht, die Augen aber GESCHLOSSEN hält. Langsam zählt er bis hundert, versucht, sich zu beruhigen, sich zu erinnern: an seine Träume, daran, wo er jetzt ist. Das Bett fühlt sich zu weich, zu warm an, als daß es sein eigenes hätte sein können. Er ist zerschlagen, müde. Die wenigen Stunden des frühen Morgens hatte er sich in unruhigem Schlaf gewälzt. Gefühlsmäßig aber war er so stumpf und tot wie immer: um so leichter wird es ihm fallen, aus diesem Bett zu schlüpfen, und sie – so sie aufwachen sollte – mühelos zu ignorieren, ein Frühstück auszuschlagen, sie schlimmstenfalls mit einigen kalten, zynischen Bemerkungen bedacht verwirrt zurückzulassen.
Es ist noch früher Morgen, als sich das Haustor hinter ihm schließt, er nach oben sieht, blinzelt. Die schwüle Hitze der letzten Wochen scheint nicht abzunehmen, sogar schon jetzt kann er sie spüren. Der Himmel ist von einem unerbittlichen Grau, läßt auf die dichten Wolken schließen, sie eher erahnen als sehen, die wie eine fest geschlossene Glocke über allem schweben. Jeden Lufthauch, jeden Gedanken an WIND unmöglich machen.
Die anderen Menschen auf der Straße kaum beachtend geht er los, hält auf ein Café in der Nähe zu, das er kennt. Er ist der erste Gast, der Kellner beäugt ihn mißtrauisch. Der Großteil der Sessel steht noch auf den Tischen, die Gerüche der letzten Nacht: RAUCH, SCHWEISS, ALKOHOL hängen noch im Raum, doch in diesem Moment kümmert ihn all das nicht. Als er schließlich seinen Kaffee bekommt, saugt er gierig den Geruch ein, klammert sich an die Tasse wie ein Ertrinkender an eine Holzplanke, verdrängt für einen kurzen Moment der Stille alle Gedanken, selbst den an Milton, aus seinem Kopf.
(2)
SIE: wer aller das sein kann und noch sein wird, er verliert den Überblick über seine Bekanntschaften und seine Zuneigungen. Seine Gefühle hat er an dem PUNKT in seinem Leben abgeschafft, als er sie nicht mehr unter Kontrolle zu haben schien: sie nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die unzähligen Menschen in seinem Leben lassen sich nicht so leicht abschaffen, beerdigen und vergessen wie seine REGUNGEN, die ihm zumeist überaus peinlich waren. Nach und nach hat er sich Strategien zurechtgelegt, wie er die Anzahl der Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung immer mehr reduzieren konnte, doch trotz aller Bemühungen und Bestrebungen, ALLEIN ZU SEIN, wollte es ihm nicht gelingen, machte er sich selbst immer wieder einen Strich durch die Rechnung. So hat er sich als NOTLÖSUNG, als Behelf, dazu entschlossen, alle Namen zu tilgen und sich der unzähligen Menschen nur noch als ER und SIE zu erinnern und sie so auf ein ihm zumeist annehmbares und erträgliches Maß zu verkürzen.
(3)
Trotz der ständigen Betonung des POETISCHEN betreibt er ein Lesen mit dem Stift: es gilt Unterstreichungen zuzulassen, Markierungen anzubringen. Er legt kleine Zettel und Lesezeichen: etwa Spielkarten, Blätter, Federn und schnell hingeworfene Notizen, die mit dem Aufschlagen des jeweiligen Buches auf ihre Neuentdeckung und AUFWERTUNG hoffen dürfen: ein. In Härtefällen nimmt er auch Eingriffe vor, Verbesserungen, so meint er: Korrekturen, Ausstreichungen, das Einfügen neuer Wörter, das Überkleben vorhandener Bilder, die Umgestaltung von Illustration mit wenigen schnellen Strichen. Im bisher schwerwiegendsten Fall hat er auch Worte ausgeschnitten, durch die entstandenen Lücken die Sicht auf die darunterliegende Seite freigegeben: und so einen neuen Sinn kreierend. Die herausgetrennten Fragmente hat er zum Teil an anderen Stellen wieder eingefügt; der VERDORBENE REST wurde entsorgt, denn er ist davon überzeugt, daß für manche Wörter keine Hoffnung mehr besteht.
(4)
Das Meer in einer Dose: das ist eines seiner kostbarsten Besitztümer. Die EINZIGE, für die er sich eine Pfeife gekauft hätte, hat es ihm als Geschenk überreicht. Er wiegt die kleine silberne Box in der Hand, erinnert sich: wie er sie entgegennahm. Als er die Hand leicht hin und her bewegt hatte, dem Geräusch lauschend, das die Box zu erzeugen schien. Wie er mit der Neugier eines kleinen Kindes die Box geöffnet hatte, der Deckel aus seiner Hand zu Boden geglitten war und er nur: in die kleine Kiste hineinzustarren vermochte, den blauen Sand betrachtend. Erst in der Erinnerung wird ihm klar, mit welcher Zärtlichkeit sie den Deckel aufgehoben und wieder in seine Hand gelegt hatte, sich sanft an ihn geschmiegt hatte; er hatte damals nur Augen für den künstlichen Sand gehabt.
(5)
Er verspürt einen stechenden Magenschmerz: es sind die Auswirkungen seines übermäßigen Kaffeekonsums, die ihn immer wieder quälen. Dunkel erinnert er sich an eine BELEHRUNG, in der ihm mitgeteilt wurde, es seien Milch und Zucker, die ihm so übel bekommen würden, die den Kaffee so viel länger in seinem Magen HALTEN würden. Doch er kann sich nicht zur puristischen finnischen Variante – oder gar zur spanischen – durchringen. Er lehnt sich zurück, preßt die Hände auf seinen Bauch.
(6)
DURCH den schließlich doch einsetzenden Regen gehen, den Schirm nicht aufspannen. Die WETTERHEXEN beobachten, die sich wie bedrohliche lebendige Wesen um die Köpfe alter Menschen wickeln.
Er besucht sie, und sie bietet ihm einen Kaffee an, und er ist schon versucht abzulehnen, weil sie nur braunen Zucker hat und er den Unterschied zu schmecken vermeint: doch er sagt JA, und zu seiner Überraschung überreicht sie ihm zwei kleine Zuckertüten, die sie ihm, so erzählt sie beiläufig, aus London mitgebracht hat, als sie in einem Restaurant dort an ihn denken mußte. Er fragt gar nicht weiter nach dem Lokal oder dem AUSLÖSER zu dem Gedanken an ihn, sondern nimmt nur die beiden Papiertüten an, für einen Moment tatsächlich: gerührt.
Auf dem Weg nach Hause kommt er an einer Gruppe übermütiger junger Leute vorbei, die die vorübereilenden Passanten ansprechen und sich über sie lustig machen. Er war nie so: und tief in seinem Inneren bedauert er das immer noch ein wenig.
(Auszug)
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