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Daniele Del Giudice

Flucht

Die Nacht flieht, Santino, und du fliehst mit ihr, die Nacht ist hinter dir her, dreh dich nicht um, sieh ihr nicht ins Angesicht, du würdest sowieso nur das Arschloch sehen; woher hättest du auch wissen sollen, daß das Motorrad den Pretannanze gehörte, du läufst ziellos durch die Straßen, oder besser gesagt, die Straßen lassen dich laufen, eine chromblitzende Yamaha, ein Traum, so einen Motor unter dem Hintern zu haben, dabei hast du sie ihm ohnehin sofort wieder zurückgegeben, du hast gebremst und bist seitlich über den Boden gerutscht, beim ersten Pistolenschuß hast du sie flachgelegt, ohne ihr auch nur einen Kratzer zuzufügen, du hattest noch nie einen richtigen Schuß gehört, aber es war ganz klar, daß es Schüsse waren und nicht Knallfrösche, Ratschen oder Feuerwerkskörper, du läufst zu Fuß weiter, schnell, du bist so klein, daß die Füße gar nicht den Boden berühren, auf den Fußspitzen fliegst du dahin, und die Nacht fliegt mit dir, und als letzter, ganz zum Schluß kommt das Arschloch gelaufen, ganz hinten, schreiend und schießend, aber warum zum Teufel schießt du auf mich? Neapel ist so groß, es ist unmöglich, daß du die Stadt zur Gänze kennst, nicht einmal als alter Mann wirst du sie zur Gänze kennen, sofern du überhaupt alt wirst, du stemmst die Hände in die Seiten, die allmählich bekommst du Seitenstechen, du läufst Straßen rauf und wieder runter, rund um die alte Molkerei, bei den Verkaufsständen mit den Melonen und den Acetyllampen stehen noch ein paar vereinzelte Leute und ganze Familien, in dieser Augustnacht, in der man keinen Schlaf findet.
Dann unbelebtere Straßen, im Vorbeilaufen schaust du, ob in einem Fenster Licht brennt oder ein Haustor offen ist, aber alle Tore führen auf versperrte Hausflure oder zu einem Treppenhaus mit verschlossenen Türen, wer würde dir schon aufmachen, wenn hinter dir hergeschossen wird, sobald die Leute hören, wie das Arschloch mit dem Revolver herumfuchtelt und –knallt, geht auch das Licht in den Fenstern aus, gute Nacht, Santino, die Nacht gehört dir allein, nur dir, voce e notte, dein Verfolger, läuft hinkend hinter dir her und schreit: Ich krieg dich schon, und dann bring ich dich um. Aber jetzt dringt die Stimme wie eine Welle zu dir, abwechselnd schwächer und stärker, wahrscheinlich hat er sich genauso wie du am Ende dieser dunklen Rampe verirrt, dieser U-förmigen, leicht ansteigenden, abgelegenen Rampe. Du bist auf einer Art Hügel gelandet, von dem aus du in die Nacht blickst, du sitzt in der Falle, links von dir befindet sich eine noch höhere Mauer, du bückst dich und stemmst die Hände in die Seiten, lieber nicht in die Nacht hinausblicken, es ist besser, du kommst wieder zu Atem und untersuchst die Vorsprünge und Lisenen am Fuß der Mauer und kletterst sofort hinauf. Zitternd vor Angst sitzt du rittlings auf der Mauer, dann läßt du dich in etwas hineinfallen, das noch tiefer und dunkler zu sein scheint als alles andere.
Wo bist du? Das kannst du nicht wissen, Santino, du befindest dich an einem Ort, an den sich in Neapel niemand erinnert, so etwas vergißt man lieber, und obwohl du die Augen anstrengst, um besser zu sehen, siehst du doch nur einen quadratischen, von vier Mauern umgebenen Platz, der mit Vesuvstein gepflastert
ist, mit demselben Piperin, an dem du dir zuvor, als du gestürzt bist, das Knie aufgeschürft hast, der Platz ist völlig leergefegt, bis hin zu den Mauern, die ihn begrenzen wie eine geometrisdhe Figurt. Ein Exerzierplatz ohne Waffen, ein Hof ohne Villa, nur dieser Platz, eine vollkommene und leere Schachtel, und du bist drinnen und siehst keinen Ausgang, und im Grunde wäre es auch keine gute Idee hinauszugehen: Du fürchtest dich davor hinauszugehen, möglicherweise hat auch das Arschloch die Rampe gefunden, aber genauso fürchtest du dich drinnenzubleiben, wegen der Leere und der Finsternis, die dich bedrängt. Du fürchtest dich vor dem Licht, das unter einem Mauerbogen angeht, und vor der Gestalt, die auf dich zukommt und dich fragt: „Wer ist da?“ Die Lampe, vielleicht eine Neonstablampe, ist nicht so hell, daß du sehen könntest, wer sie hält und einen Schritt vor dir stehen bleibt. Du willst wieder davonlaufen, „Wohin willst du?“, sagt der mit der Lampe, während du in alle vier Ecken läufst und aus allen Ecken wieder zum Licht zurückkehrst, das dich genauso bedroht wie die Pistole, die das Arschloch zuvor in der Hand gehalten hatte. Lampe oder Pistole, letztendlich gibst du klein bei. Das Licht tastet dich von oben bis unten ab, „Aber du bist ja noch ein Kind!“; und da du schreckensstarr dastehst und keinen Ton von dir gibst, wendet sich die Lampe ab und in ihrem Licht erscheint ein alter Mann, der ein etwas enges Hemd mit kurzen Ärmeln trägt und winzig ist, nicht viel größer als du.

(Auszug)

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