Michael Hammerschmid
Ich bin klar
Über mich zu gehen
Was heißt marginal? Überlegungen zu Peter Lohrs Delyrik
Wer ist Peter Lohr?
Peter Lohr ist der Autor von über hundert Texten, die der von Lohr Freimann
genannte Dichter Helmut Neundlinger vor einem Jahr in einem Wiener Pflegeheim
zufällig entdeckt hat. Sie sind der letzte Rest einer verlorengegangenen,
wahrscheinlich ziemlich umfangreichen Textmenge. Peter Lohr lebt mit einem Down-Syndrom
in Strebersdorf. Er ist 54 Jahre alt. Auf Fragen zur Autorschaft seiner Texte
antwortet er ablenkend: Wer ist Peter Lohr?
Marginales: Eine Aufmischung oder Fünf durch drei ist eins, zwei Rest
Fünf durch drei ist eins, 5:3 = 1. Zwei Rest. Die Eins steht oben, die
Zwei unten. Zwei ist nicht der letzte Rest. Null dazu und die Zwei wird scheinbar
zur Zwanzig aufgewertet. Sechsmal paßt die Drei in diese Zwanzig, wieder
zwei Rest. Es werden unendliche Zweien folgen. Es werden auf der rechten Seite
unendlich viele Sechsen folgen. Doch mit dem wachsenden Rest wird nichts Rechnerisches
geschehen. Man könnte die Rechnung rückwärts rechnen, dann saugt
man den Rest wieder in die ganzen Zahlen. Dann findet das Unendliche zurück
ins Endliche. Mathematik steht hier weder auf dem Prüfstand noch zur Diskussion.
Aber zeigt dieses Beispiel nicht, daß ein mathematisches Gesetz die Zahlen
bewertet, daß die eine Zahl als Ergebnis deklariert ist, während
die andere als Rest bestimmt wird? Die Mathematik versteht den Begriff Rest
freilich weder ästhetisch noch ethisch. Regelwerk und Gesetzeslage einer
Rechnung scheinen weitaus klarer und neutraler als in Literatur und Gesellschaft.
Der letzte Rest ist manchmal auch erste Sahne (eine deutsche Zentrumsredewendung)1.
Oma hat die Reste unseres Essens jedenfalls gerne aufgegessen. Ich habe mein
Essen als Kind nie aufgegessen. So ein Kapitalistenkind, oder wurde ich vom
Essen übriggelassen? Die Problematik des Restes rückt jene des Marginalen
etwas näher. Wer ist marginaler: Literatur oder Naturwissenschaft? Nein,
das soll hier nicht entschieden werden. Das Marginale ist jedenfalls durchaus
nicht allein das, was übrigbleibt, sondern genausogut dasjenige, was sich
abgrenzt, zurückzieht oder abgegrenzt wird, sich losreißt
passiv Marginales, aktiv Marginales
Gewöhnlich wird das Marginale
über die Grenze, über den Ort bestimmt. Ohne Zentrum kein Marginales.
Hier soll unter anderem der Versuch unternommen werden, den Begriff des Marginalen
mit einigen Bedeutungen anzureichern, um ihn als ästheto-ethische, poeto-politische
Kategorie einzuführen. Denn das Marginale zeigt vor allem die Politik der
Wahrnehmung (eine Zentrumsfloskel). Das mathematische Beispiel wurde vorerst
nur gebraucht, um eine Analogie zwischen einer sogenannten neutralen Sprache
und einer ästhetischen oder ethischen Sprache herzustellen. Doch nun wird
diese Analogie wieder aus der Achse gehoben, die Zahlen haben wie gesagt wenig
mit Ästhetik oder Ethik zu tun. Ästhetik und Ethik sind menschlich,
sie sind unmenschlich. Genausowenig wie die Minderheit eine Angelegenheit der
Zahl ist,2 genausowenig ist das Marginale allein über die Frage nach seinem
Ort beschreibbar. Also, welches Bild soll gelten, um das Marginale zu thematisieren?
Wird es ein geometrischer, euklidischer Raum sein mit Vordergrund und Hintergrund
oder ein sozialer Raum, beispielsweise seine Formalisierung durchs Modell der
Pyramide? Gilles Deleuze und Felix Guattari (Zentrum, Zentrum, dazu später)
hätten dem Marginalen womöglich eine andere, größere Geschwindigkeit
und Beweglichkeit zugesprochen und sie dabei aus unserem Denken herausgeschleudert
und hindurchgeschmettert. Freilich, wenn das Marginale auftaucht, taucht es
unvorbereitet, vielleicht sogar blitzartig auf. Aber kann es überhaupt
auftauchen? Wie zeigt es sich? Wird es gezeigt, vorgezeigt, um sich überhaupt
zu zeigen, oder dringt es unerwartet ins Bewußtsein ein, schleicht es
sich an? Mit welchen Begriffen kann es dann erfaßt werden? Oder ist es
nicht vielmehr, wenn es aufgetaucht ist, schon wieder fast verschwunden? Jedem
sein Marginales: Dem verwöhnten Esser sind das Innere des Apfels, das Kerngehäuse
und die Apfelschalen marginal. Er läßt sie übrig, als Rest.
Wer schält und aushölt, der marginalisiert wohl. Gäbe es keine
Frucht, deren Schale gegessen wird und deren Kerne wir lieben, so müßte
man sie erfinden. Warum aber ist die Luft um den Apfel nicht marginal? Ach,
die Luft ist so leer, daß sie kaum marginal werden kann. Aber ist nicht
die dünne Luft marginal? Die neutrale Opposition zwischen Innerem und Äußerem
reicht nicht aus, um dem Marginalen näherzukommen, die wertsetzende Klammer
der Opposition zentral marginal ist viel zu ungeeignet. Trotzdem noch
einmal eine Gegenüberstellung, geballt: Zentrum, Kanon, Norm, Gesetz. Dann
kann man fragen: Was ist randständig, abseitig, besonders, abwegig, dezentriert,
unhomogen, abwesend, ablenkend, sekundär, abgeleitet, abgeglitten, wegstrebend,
subkulturell, extrem, polarisierend, pervers, obszön? Das Wort marginal
befindet sich in dieser Gesellschaft. Ist es noch marginal? Das Marginale läßt
sich nicht allein von einem Zentrum aus bestimmen. Sobald mehrere Zentren ins
Bewußtsein rücken, können sich diese überschneiden und
dabei Interferenzen entstehen. Die Kategorie des Marginalen gewinnt damit an
Komplexität. Dank für die Wolke. Versuchen wir es vorerst noch einfacher.
Ein Randgänger versteckt sich kurz.
(Auszug)
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