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Eugenie Kain

Sekundenschlaf


Nach Sandl gab er wieder Gas. Die Straße vor ihm verschwamm zu einem gleißenden Streifen. Richard Kogler spürte seine Lederhaut durchlässig werden. Er schnitt in die Kurven. Der Schrei der Maschine flog über die erstarrten Wälder.
Auf dem vereisten Parkplatz standen zwei Sattelschlepper. Prag. Gmünd. Die Imbisshütte war geschlossen. Den Weg zu den Teichen wiesen ein Holzpfeil und eine Tafel mit Vorschriften:
Verboten …
Untersagt …
Nicht gestattet …
Bis auf Widerruf …
Auch deshalb war er mit den Mädchen hierher gekommen. – Kommt auf die Erde, bleibt am Boden. So ist das Leben. Privatbesitz. Es gibt nichts umsonst. Für euch schon gar nicht. Und trotzdem. Euren Anteil am Leben müßt ihr einfordern. –

Ein geknickter Hohlstengel ragte aus dem harten Schnee. Es gab Photos. Die Mädchen vor riesigen Giftpflanzen. Desireé, ungeduldig und ungehalten unter den weißen Dolden des Schierlings.
– Ritchie, das Ding ist voller Käfer. Drück endlich ab.
Zieht sich die Rasierklinge durchs Fleisch, brennt sich Löcher in die Haut, fürchtet sich vor Käfern und ihrem eigenen Abbild.

– Keine Übergriffe mehr, Desi.
– Okay Ritchie, keine Übergriffe mehr, ich werde mich mögen lernen. Aber schau mich an.

Die Schierlinge waren umgeschnitten, Desireé war nicht mehr da. Das Begräbnis ein roter Eintrag am Wochenplan in der Küche. Thema aufreibender Telefonate: Wer zahlt? Er spürte die Zeit wie einen zu engen Rollkragen. Es herrschte die Ordnung der Kälte.
Eine Hasenspur zog sich dem Ufer entlang über den gefrorenen Teich. Sonst war das Eis unberührt.
Er war ruhiger geworden, als die Schnitte und Brandlöcher verheilten und zwischen den Narben auf Armen und Beinen keine neuen Wunden auftauchten. Im Team wurden Desis Fortschritte analysiert. Alle waren erleichtert. Jetzt die Körperpflege angehen. Im Haus der schwierigen Mädchen kreiste jede in einem anderen Winkel des summenden Universums . Desi steckte im Andromedanebel und der war zweieinhalb Millionen Lichtjahre von den Übereinkommen menschlichen Zusammenlebens entfernt.

Als er beschlossen hatte, in die Stadt zu gehen, wußte er nicht viel von der Welt. Er kannte das Stück Himmel über dem in die Wiesenmulde geduckten Haus. Er kannte den Mond, der sich grinsend durch die Nächte wälzte und den Rhythmus vorgab: Schlachten, Schlägern, Eisstockschießen. Er schaute auf die Wälder, die sich in dunklen Schwüngen an den Abendstern heranschoben. Mit dieser Weite der Welt ging er dann in den Stall. Jeden Tag war er vor die Tür getreten. Jeden Tag hatte er tief eingeatmet, um ein Stück Unendlichkeit aufzunehmen. Und wieder war sein Schädel gegen den Granit des Türstocks gekracht. Er wußte, daß ihm das Leben in der Mulde zu klein geworden war. Den ganzen Himmel wollte er sehen.
Er ging in die Stadt. Aber er kam wieder von Zeit zu Zeit. Nicht im Pendlerbus sondern auf dem Motorrad, mit Roßschweif und spitz zulaufenden Lederstiefeln. Später auch noch mit einem Titel vor dem Namen. Dipl. Soz. Kogler Richard. Ein wilder Hund für die Daheimgebliebenen.

Das Eis trug. Es war schorfig vom böhmischen Wind, der Eisstaubfahnen aufblähte und Wangen sengte. Durch die dünneren Stellen der Eisdecke schimmerte braun das eisenhältige Wasser.
Im Sommer spiegelten sich Fichten im roten Wasser. Der Teich war nicht tief, aber kalt.
Der Teich war den Mädchen unheimlich. Die Fußknöchel verschwanden in schwarzem Schlamm, die Zehen konnten gegen eine ausgewaschene Wurzel stoßen oder gegen einen kantigen Stein. Er hatte den Mädchen geraten, gleich hinauszuschwimmen.
Die Mädchen hörten nicht auf ihn. Spritzend und kreischend liefen sie ins Wasser, das ihnen kaum zur Brust reichte. Nur Desireé hielt sich abseits, steif und die Hände abwehrend gespreizt, als stünde sie in flüssigem Metall.
– Desi, keine Angst, das Wasser frißt dich nicht.
– Richi, du Idiot, schwimm doch selber, wenn du kannst.

(Auszug)

[kolik 15]