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Sabine Scholl


ZELL


I. Prolog

Von Alpen umrandet steht auf einer feuchten, schneebedeckten Ebene das Hotel Maria des Herrn Einzel. Er ist zu alt, um Gäste zu betreuen. Im Kaminstüberl hat er sich eingerichtet, in der Frühstücksküche richtet er sein Essen her. Er sitzt am frisch geschliffen und lackierten Eichentisch und schaut durch das Gewirr der Zimmerpflanzen in den Garten, wo Zentimeter für Zentimeter ein Häuschen fürs Werkzeug, früher war es zu mieten, im sumpfigen Grund versinkt.
Einzels Blick taucht zurück ins Stüberl, schweift über die Bibliothek. Feriengäste hatten Konsalik und Simmel gern. Daneben die Buchrücken mit Hitler und Marx, damit man weiß, was vorgeht in der Welt, und das Buch der Juden, schlechte Fotografien, als Beweis für die Entartung der Kultur. Einzels Kontohefte in der unteren Reihe, alte Akten und Belege seiner Geschäfte, die er jeden Morgen ordnet, von neuem, und ganz oben, als Krone seines Lebens, bewahrt Herr Einzel Schriften auf, die er selbst verfaßt.
So wie er seinen Besitz aufzeichnet, beschreibt er seinen Hergang in allen einzelnen Teilen. Wort für Wort.
Er ist allein: Jeden Morgen rechnet er sich aus, wieviel verlorenging und wieviel kommt herein. Es summiert sich. Gottseidank. Für einen guten Zweck. Herr Einzel reibt sich die Hände.
Früher röstete er Kaffee für seine Gäste. Heute saust der Wind. Zerrt an seinem Baum mit seinen Ästen. Könnte ein Verlust sein. Herr Einzel kaut das harte Brot. So soll es. So war es immer. So lautet auch sein Testament.
Aus einer blauen Schachtel holt er Brillen, Kopfhörer, setzt sie auf, steckt dünne Drähte an einen flachen Apparat, macht es sich am Lehnstuhl bequem, kippt zurück, drückt einen Knopf, wählt ein Programm, tritt in sich hinein.
Rhythmisches Sirren, Trommeln, Glucksen, Rauschen und vor seinen Augen flüssiges Licht, spiraliges Grün, Lavastreifen, Einzel lässt nichts verkommen, erforscht noch den hintersten Winkel seines Gehirns. Eine halbe Stunde Training am Morgen steigert die Aktivität, feuert seine Gedanken, wirft ihn in die Sprache, die er so besser beherrscht. Betawellen helfen Einzel, sich zu erinnern an jeden kleinsten Moment, in seinen Hirnzellen werden Botschaften schneller transportiert, Synapsen treten öfter auf. So hatte der Prospekt erklärt, den Einzel auspackte mit dem Apparat. Er schwört auf diese Weitung seiner Gedanken, die zwar ausreichend sind, aber nachließen im Alter, und nun mit der Bewußtseinsmaschine geht alles los, erneut und besser, und die schnell aufeinanderfolgenden Klopfzeichen in seinem Ohr werden übertönt von einem lang anhaltenden, sich wiederholt verstärkenden Laut, und wieder und wieder, der sich dissonant verhält und durcheinanderbringt, was die Maschine aufgebaut …
Kruzifix, Einzel nimmt den Hörer ab und seine Brille, wirft eine Decke auf den Apparat, schiebt das gerahmte Foto seiner Frau Maria über den Tresor.
Die Klingel ist nun nicht zu überhören. Wer kann das sein? Der Bäcker? Einzel braucht kein teures Brot. Liefergebühr. Die gesunden dunklen Wecken holt er sich lieber selbst. Es läutet wieder. Herr Einzel schlurft durchs Vorhaus, Gehen fällt ihm schwer, sein Rücken ist zu steif und er guckt benommen durch den Spion.
Ein Ausländer, augenscheinlich, dunkle Haut und dunkles Haar, wartet vor der Tür. Erst als der Mann zu sprechen beginnt, erkennt er dessen Stimme.
- Ja, gleich, ich komm schon, mach gleich auf.
Einzel holt den Schlüssel, öffnet, grüßt.
- Grüß dich, Radu, lange nicht gesehen!
Der Mann, jung, etwa über dreißig, olivfarbener Teint, braune Augen, fast blauschwarzes, lockiges Haar, mit einem Gummiring im Nacken zusammengebunden.
- Hast du was für mich?
Radu nickt und tritt ins Vorhaus.
- Sehr gut. Sehr gut. Warte, ich geb's gleich in den Kühlschrank. Und dann zeig ich dir das Zimmer.
Herr Einzel empfängt eine kleine Kühlbox aus Radus Hand, schleppt sich in die Küche und steigt, wieder zurück im Vorhaus, mühsam die Treppen hinauf. Schleift seinen rechten Fuß leicht über den Kokosläufer, der den langen Gang markiert, und öffnet die Türe zum letzten Zimmer hinten rechts.
- Hier bist du ungestört. Du mußt sicher ausruhen von der Reise. Du kannst hier wohnen.
Herr Einzel zeigt auf das Doppelbett mit kariertem Deckenüberzug und Pölstern.
- Aber zum Essen gibt's nichts bei mir. Da mußt du in den Ort. Du weißt, ich bin kein Hotel mehr. Das zweite Haus, sind Apartments, für die Holländer. Die bringen alles mit. Kartoffelfresser. Da wird nur an der Miete verdient.
Radu nickt, plaziert seine Tasche auf einem Holzgestell hinter dem Schrank.
- Du kennst dich ja aus.
Sagt Einzel.
- Weißt, wo das Bad ist am Gang. Das Restaurant habe ich aufgehört, wie meine zweite Frau gestorben ist. Gott hab sie selig.
Radu nickt.
- So, und morgen früh sprechen wir dann übers Geld.
Radu zieht seine Lederjacke aus.
Herr Einzel schließt die Türe, verziert mit ländlichen Ornamenten, natürlich nicht echt, Preßspan, beklebt mit Furnier. Die Gäste wollten es so, merkten keinen Unterschied.
Herr Einzel reibt sich die Hände, glückliche Hände, alles was ihm unter die Finger kommt, wird Geld. Einzel lächelt über seinen Vergleich, aus der Bildung, auch da kennt er sich aus, obwohl die erste Frau, Maria, ihn den dicken Hintern, den leeren Kopf, die Wurstfinger geschimpft hatte, während sie selbst mit langen schmalen Händen vorm Klavier stand und die Kinder dirigierte.
Aber schließlich hab ich's überlebt, meine Anatomie, war zum Bauen nicht schlecht, bis jetzt. Denkt Einzel.
Gut, daß Radu vorbeigekommen war, auf seinem Weg nach Siebenbürgen. Er hatte ihm vom Blut erzählt. Seiner Krankheit.
Verwunderlich, daß nun seine Rettung von einem Kellner kommt, einem Ausländer, aber damals, als alles so gut ging, Gäste reisten an, Einzel stockte das erste Hotel auf, errichtete das zweite, Investition nach Investition, da wurden für die Gäste auch die Gastarbeiter gebraucht, zum Service und zum Bau. Herr Einzel erinnert sich genau. Die Bewusstseinsmaschine hilft. Da waren Italiener zu Anfang, dann Jugos und später Polen, sogar Rumänen. Türken ließ er aus, das ganze Getue mit der Religion, Islam, Teppichklopfer, hat er nicht hineingelassen in sein Hotel, Maria, ein christlicher Name, und seine Frau hat sich immer beschwert über die aus dem Balkan und die stinkenden Sizilianer, ohne Manieren, ohne Kultur, gerade gut, im Gartenhaus zu wohnen, anfangs, aber nur während des Bauens. Später im Gemeinschaftsraum, Stockbetten, Waschgelegenheit, nur nicht zuviel Komfort, sonst bleiben sie hier, holen gleich ihre Frauen herauf, hat Einzels Frau gesagt.

Herr Einzel erinnert sich genau, und als Kur gegen das Kreuz setzt er sich in seinen Lehnstuhl, zieht kariertes Papier aus der Tischlade, gelocht am linken Rand, so heftet er es ein, wenn es voll ist, fertig beschrieben, er greift sich einen Stift und setzt an, leckt am Ende von Zeit zu Zeit, drückt auf, hält fest:
Ja, der Italiener war eine andere Sorte Mann. Geld war nicht sein Problem. Aber er hat was zum Leben gebraucht, hat Fremdworte gelernt. Und ist gut ausgekommen ohne Frauen, einige Zeit. Hat die Hand immer rund getragen, immer geschlossen um einen Stab, den Griff der Mörtelkelle, ein Brett in der anderen, hat er graue Masse aufgestrichen, um sie langsam zu begleichen, glatt zu sein, für die Mauer, und die Haut ist rauh geblieben. Der Mörtel ist eingetrocknet, hellere Flecken, das Wasser aufgetrocknet, der Italiener hat Löcher ausgebessert, Zwischenräume auf Gartenwegen, neben Fensterhöhlen, oder er hat gegossen, Formen, Rahmen. Hat sich die Lippen geleckt, seine trockene Zunge hat geklebt und der Italiener hat gelacht. Er ist so oft betrunken gewesen nach der Arbeit, daß man ihn nicht anders gekannt hat, daß man nichts sonst von ihm weiß.
Der Italiener hat falsch deutsch gesprochen, er hat im Schlaf gestöhnt, ich hab's gehört. Warum? Etwas hat ihn durch die Nacht gebracht. Seine Familie hat sich nicht an ihn erinnern wollen. So hat er keine mehr gehabt. Sein Vater verschollen, hat windige Geschäfte getrieben auf einem Boot. Einmal haben sie sich getroffen. Der Italiener hat langsam gesprochen, hat er mir erzählt, hat immer wieder die Zunge befeuchten müssen, aber es war nicht der Vater, mit dem er sich nachher betrunken hat. Die Mutter arm, doch mit so viel im Schrank, daß es zum Stehlen gereicht hat. Eines Nachts hat er sein Bett verwechselt, hat er mir erzählt. Ob er dann mit ihr geschlafen hat, hat der Italiener nie erwähnt.
An freien Tagen ist er ausgegangen, hat mit der Zunge nach dem Kellner geschnalzt, in den Stulpen seiner Hosen Kies geschleppt. Von der Baustelle. Die Frauen haben ihn hinausgeschmissen, zu harte Haut. Doch der Italiener hat sich für fein gehalten und ist zu betrunken gewesen, das Rülpsen zu verbergen. Alle hatten es gehört, daraufhin hat er alle eingeladen, hat er mir erzählt. Daraufhin hat er kein Geld mehr gehabt. Sie haben ihn hinausgeschmissen. Am nächsten Tag ist er wieder zur Arbeit gekommen, in Anzug, Handschuhen und hat sich nicht umgezogen, hat sich vollspritzen lassen vom Dreck aus der Maschine, hat seine Haut gekalkt, in den Ritzen ist das geblieben, in den Pausen kotzte er sich aus.
Herr Einzel setzt den Stift ab, blickt in den Garten, denkt über den Jugoslawen nach, den zweiten Mann am Bau. Auch er arbeitete lang für das Wunder. Für die Wirtschaft nach dem Krieg.
Der Jugo war weit entfernt von Heimat und hat vieles erlernt: Busfahren, Strassengraben, Kehren, Autolackieren, dreckige Arbeit. Selten hat er das rot getrocknete Gemüse gegessen. Zu scharf jetzt. Er hat nicht mehr heim können. Hat sich versteckt gehalten hinter seiner Nummer in einem weißverschneiten Haus. Er hat an sein Dorf gedacht und das verdiente Geld gezählt, in der Fremde. Mit dem Jugo habe ich öfter ein Wort gewechselt. Wir haben die Namen der Geographien ausgetauscht, die Nachrichten haben von Schauplätzen gesprochen in seinem Land und der Jugo hat sich an Tanten erinnert, gestützt auf die Schaufel für den Schnee. Denn das Weiße ist gefallen und gefallen. Einmal habe ich dem Jugo auch die Hand gereicht. Der hat sie genommen für einen Moment.
Und Radu, der Rumäne, war Kellner gewesen, zuverlässig zwar, nur wenn er getrunken hat, dann war es vorbei. Er hat den weiblichen Gästen Augen gemacht. Meine Frau hat sich beschwert, der ist zu hübsch, der serviert sich selbst statt Schlagobers zum Kaffee. Das geht so nicht weiter, wir sind kein Bordell. Ja, in den Siebzigern war das Hotelgeschäft sehr gut. Alle haben nach Österreich wollen und Österreich hat was dazutun wollen, nicht wie heute. Wo ist heute noch ein Unterschied, alles ist gleich, teuer, alles Sahne, und sogar die Amerikaner sind gekommen damals, heute genügt schon das Fernsehen, und Schifahren kann man in Hallen in Holland nun auch.
Es reicht. Einzel holt den Ordner, die Metallbögen schnappen ein, halten das Blatt beschriebenen Papiers, und er schließt schnaufend die Türe zum Stüberl, dreht den Schlüssel herum, sicher ist sicher, man ist nicht allein, watschelt hinüber zur Küche, befestigt das Schloß am alten Kühlschrank und vor dem Vorratsraum.
Der Hirnapparat wird samt Brille und Kopfhörern in seiner blauen Schachtel verstaut. Einzel schiebt sie unter das mit einer Wolldecke geschützte Klavier. Er fährt über die prallen Blätter der Pflanzen am Fenster. Das ist, was ihm blieb, von den Frauen. Sie haben die Zimmerpflanzen poliert, gegossen und gepflegt. Tag für Tag. Und die Pflanzen haben überlebt. Er streicht über die hölzernen Eierbecher, die vor den Blumenstöcken aufgereiht ihn Jahr für Jahr erinnern, die Tochter hat sie bemalt in der Schule, Jahr für Jahr zu Ostern und zu Weihnachten, Jahr für Jahr, die Kerzen mit wächsernen Farbnoppen beklebt, über die er jetzt streicht, und die goldenen Kreuze aus vergoldeten Wachsplatten Jahr für Jahr, und an den Wänden hängen an Haken die Topflappen, gehäkelte Trophäen, gestrickt, geknüpft, genäht, gewebt, Frauenarbeiten von Mädchenhänden belebt, Geschenke seiner Tochter an seine Frau, Muttertag, Jahr für Jahr. Herr Einzel beendet seine Meditation, schlurft zurück zum Tisch, plumpst auf die Eichenbank, schiebt einen geblümten Polster unter den Hintern, von seiner zweiten Frau, und beugt sich über Rechnungen, Kontoauszüge, lange Listen von Ausgaben. Damit ihn niemand übervorteilt. Damit alles bleibt. Schön beisammen. Er blinzelt über die Gläser seiner Lesebrille hinüber zur Bibliothek. Die Aufzeichnungen seines Lebens. Unter Opfern ist es geschehen. (Auszug)

[kolik 12]