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Alexander Widner


Alfreds Stunde

Ich besuchte Alfred. Er war nervös und schweigsam. Wir tranken Wasser. Alfred, lange seinen Mund auftuend, als wollte er Anlauf nehmen für den ersten Satz, geriet plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, in ein rasendes verschwitztes Stottern und Stocken, das sich erst langsam auflöste, als er sich warm geredet hatte.
Begrabt die Toten. Sie verpesten das Leben. Und begrabt die Lebenden. Sie verpesten alles. Entleert die Welt! Eine Gesellschaft zum Aufschlitzen von Trotteln! Sein oder Nichtsein ist überhaupt keine Frage. Dich, Närrchen, hab ich doch recht gern. Ich bin nicht Staub. Alle Menschen werden sterben. Nur ein einziger, der Mensch mit der größten Sensibilität, wird übrigbleiben. Für die Neuen Zeiten. Begrabt die Lebenden. Sie stören die Toten. Nie wieder soll ein Leib deinen Leib verlassen. Ausstehlicher Ort, ein ausstehlicher Ort löscht sich aus. Nichts macht einen Ort zu einem ausstehlichen Ort. Musik mißtraue ich. Die dümmsten Kehlen beginnen ihr Sakrum mit Liedern. Jedem Fürzlein singen sie nach, als wäre es der Donnerschlag der Weltgeschichte. Die Geschichte muß Tugend sein. Und Tugend muß für nichts sein, ohne Zweck, ohne Grund, fremd. Ich will mein eigener Vater sein, ohne Thema. Diese Themenscharwenzler. Ich bin gar nicht neugierig auf die Sache nach dem Tod. Katholischer als der Antikatholik ist niemand. Wir lassen euch nicht hängen, wir Katholiken, wir hängen euch selbst. Wer es fertigbrachte, mit bloßer Hand ein Hühnchen zu zerdrücken, war Katholik. Wer nicht, Ketzer. So erkannte die katholische Kirche die Katharer. Ein klarer Weg. Amen! Amen! Amen! Amen! Der edeldeutsche Charakter kommt aus dem Schrank. Das gilt als unverbrüchliches Recht. Das unverbrüchliche Recht gilt als unverbrüchliches Recht. Wieviel ist es wert? Ist es wert? Zum Beispiel einen geraden Federstrich? Natur macht mich krank. Sie ist unverbrüchliches Recht. Wir reden doch nur über Mitmenschen. Mehr fangen wir nicht an mit ihnen. Der gesunde Menschenverstand ist ein scheinheiliger Bastard. Mit Glasaugen im und in einer Eisschicht am Kopf. Glasaugenzeugen, die spiegeln und unablässig zurück und aus ihrem Kopf werfen. Ich hasse den Gestank der Sünde. Wenn schon sonst nichts: Sich selbst kann man immer wieder aufs Spiel setzen. Auch Gott verstößt gegen seine Gesetze. Und dennoch gelten sie für uns Nichtgötter. Wir haben keine Toten. Dann macht sie. Begraben muß werden, um das Leben zu retten. Unsere einzige Investition in die Zukunft ist der Kauf eines Grabes. Da werden Geschichten erzählt, als ob nicht längst alles Geschichte wäre. Mein lieber Bruder, wir bauen uns ein Floß und fahren den Himmel hinunter. Jeder Bock ehrt seine Hure. Denn dieses Ganze ist nur für einen Gott gemacht. Altes Fleisch ist noch immer Fleisch. Trockenes Gras ist noch immer Gras. Wie kann man leben ohne Unbekanntes vor sich! Weil wir nur ein menschliches Gefühl kennen: Rache. Ein starkes Gefühl. Unser Gottesgefühl. Nicht Gott, es waren immer Menschen, die über Leben und Tod entschieden haben. Immer dieses Hineinvermuten, nie ein Hineinwissen. Alles stellt sich uns in die Quere, damit es nicht gewiß wird. Keine Gewißheiten, selbst die Kirche kann uns immer nur Dogmen liefern, verkaufen, nie das Produkt - Gott! - selbst. Da ist mir VW schon lieber. Die haben ihren Gott Käfer in den Dreißigern als Dogma verkündet, und auch wirklich gezeigt. Der Lauf des Kirchenjahres: Wir freuen uns und wir fürchten uns. Wir jubeln und wir erschrecken. Ich werde nie auf einen grünen Zweig kommen, werde mein Leben nie fassen können, jede Ordnung wird mir verschlossen sein. O Mutter, ich habe deine Milch getrunken, du sollst meinen Samen trinken. Wenn eine Frau keine Milch mehr hat, stiehlt sie. Stiehl, stiehl bis an dein Ende. Ich werde nicht zu Staub, und wenn, dann schöner Staub. Reiner, schöner Staub. Wahrheit, Wahrheit! Wahrheit ist eine Massenware. Jeder hat einen ganzen Packen davon, Vorrat für ein ganzes Leben. So viel, daß er noch austeilt davon. Jeder bietet sie an. Bis zum Überdruß. Wahrheit, Wahrheit allerorten. Aus jedem Mund, aus jedem Arsch. Sechzig, siebzig, achtzig, in komischen Fällen neunzig oder hundert Jahre stieren wir in die Welt, und dann zeigen wir ihr den toten Hintern. Sie uns aber schon viel früher. Ein Schicksal. Ein Schicksal aus dem Weltenbuch. Ich bin ein Schwächling. Aber plötzlich einmal werde ich die Kraft haben, mich aufzuhängen. Ich schlage es zu, mein Weltenbuch. Nur Musik erzeugt ein Einverständnis zwischen Mensch und Zeit. Wie schrie Mutter oft: Er haßt Musik. Ich aber, ich, schneckenhaft schleichend, hungrig und satt gleichermaßen, mit meinen Händen überall drin, im Dreck wie im Gold, was bringt mir die Wirklichkeit des kurzen Daseins? Was bringt mir die Wirklichkeit? Wenn ich ständig mit der Wirklichkeit umgehen will, muß ich mein Leben retten. Wenn ein Präsident an Alzheimer leidet, wem fällt das schon auf? Viele Anstrengungen macht das Leben, um einen auch nur einfachen Menschen in Bewegung zu halten. Viel Energie und alle Kraft stecken im Elend. Und die Wachen wachen. Die Magensäure steigt ihnen in die Speiseröhre, wenn sie an mich denken. Sattes Glück für mich steigt aus dieser Säure. Schlimm genug für das Holz, das als Klavier erwacht. Schlimm genug für die Stimme, die als Koloratur erstirbt. Altes Fleisch ist noch immer Fleisch. Das Leben fängt an, wenn man beginnt, Muttermilch auf die Mutter zu speien. Alt und kindisch bin ich, aber vergebt mir nicht. Ein Orgasmus ist ein Gottesbeweis. Vielleicht der einzige. Auschwitz ist ein Gottesgegenbeweis. Und nicht der einzige. Jedes tote Kind ist einer. Die Arthrose geht bis in meinen Schwanz. Jetzt schon. Und das schon seit Jahren. Rindfleisch ist ein Stück Heimat und nicht eine Ware. Je zäher, desto mehr Heimat. Zählt Geschenke auf, Geschenke: Obst, Strümpfe, Bierflaschen, Redezeiten, Gedenkminuten, Leseproben, Colliers, Kleinhunde, Fliegenfänger, Seiten aus Programmheften, Glühbirnen, Asphaltstücke, Autogramme von Wunderkindern und von Wundergreisen, Kerzen, Schals, und was das Undsoweiter so alles zu bieten hat. Ein Bulle von einem Weltenmann, ein Arschloch von einem Hirn. Und eine charakterliche Tiefsau dazu. Für alle Zeiten und in alle Zeiten hinein. Du sollst wachen, Wache halten, nicht tot sein. Totsein ist leicht, ein Spielchen. Nur Wachen hält dir die Zeiten vom Leib, drängt dich ins Wissen. Es ist mir wichtig, daß mir Vieles fremd bleibt. Menschen wie dich behandle ich als Lebende als Tote. Behandle die Toten als Lebende! Einsamkeit hat Würde. Mehr noch, Einsamkeit hat Weihe. Der Weg der Menschheit: Von der Leibeigenschaft direkt in die Weihe. Im ganzen Ort kein Mörder. Wie soll man da leben. Selbst der letzte Depp kommt heute schon in alle Welt. Von Prinzenhochzeiten bis zu den Kriegen. Aber es gilt: Wenn ein Idiot auf Reisen geht, so kommt er als Idiot zurück. Faszinieren kann auch der selige Idiot. Ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an die Eisenbahn. Die ist kein Glaubenssatz, die fährt. Gott verstößt selbst gegen seine Gesetze, und dennoch gelten sie. Wenn schon sonst nichts, sich selbst kann man immer wieder aufs Spiel setzen. Das sagt der scheinheilige Hausverstand. Schon wieder. Und auch ich sage es wieder und wieder. Es ist möglich, schallend zu lachen am Totenbett. Aber wird es jemand tun? Alle Macht geht von der Gewohnheit aus, alles Recht von der Gewöhnung. Lachen und Tod halten sich an diese Regel. Wie sagt der Volksmund, der weise und allwissende: Wenn einer etwas gegen seine Art und Weise tut, so stirbt er bald. Der scheinheilige Volksmund hat wieder gesprochen. Ich kann mir eine Welt ohne mich nicht vorstellen. Eine Welt ohne mich ist ein Irrtum. Diese Welt kann aber nicht existieren als Irrtum. Wo du keine Bedeutung hast, dort sollst du auch keine Wünsche haben. Seinen Arsch putzen im Angesicht der Welt, das ist alles, was wir können. Militär, die Straßenbahner am 1. Mai, und Faschingsnarren marschieren auf, aber nicht ich. Schnitzel und Braten sollten nur für jene zugänglich sein, die bereit sind, mit ihrem Leben zu zahlen dafür. Gras dem Vieh und Fleisch den Menschen. Die Wurstigkeit der Toten brauchen wir. Und die Grausamkeit der Toten, die uns Lebenden mit Kummer überhäufen. Tiefe, ewige Interesselosigkeit. Wir haben ein Recht auf die große Interesselosigkeit. Und wir haben ein Recht auf die große Feigheit. Jude, Kommunist, rothaarig, schwul, und trotzdem reaktionär. Das alles kann man einzeln sein. Er, du kennst ihn nicht, er wars im Pack, und trotzdem reaktionär. Das nenn ich Mut. Da wird Gutes gegen Künstliches getauscht, und damit wieder gut gemacht. Mit dem Tausch Schlechtes gegen Künstliches funktioniert das noch viel präziser. Warum, warum? Weil es so ist. Frag nicht. Meine Stärke ist nicht der Beweis. Meine Stärke ist die Behauptung. Ein Bundespräsident im Morgenmantel gehört in eine Operette, ist eine Operette. Jeder Idiot hat ein Schicksal. Nur ich hab keins. Schon mein Vater hatte keins. Unsere ganze Familie war immer schicksallos. Joi, joi, joi. Der ist noch wach so dumm wie andere im Schlaf. Ich nehme immer an, alle Menschen sind nur da, weil ich da bin. Das ist sexuelle Rechtschaffenheit. Der nackte Morgen, der nackte Morgen zeigt alles. Nur am Morgen sehen wir klar. Wir sind vielleicht eine interessante Schöpfung, aber keine glückliche. Wenn man intelligent ist, kann man sich dumm stellen. Andersherum gehts nicht so einfach. Lauter Mittelmäßige. Die träumen sogar noch mittelmäßig. Geschichte, gleich ob Altertum oder Mittelalter, das erfährt man alles aus erster Hand, nur über unsere Zeit muß man mit dem TV zufrieden sein. Ohne Traum. Drum werden meine letzten Worte sein: Ich habe nichts verstanden. Nur der erste Blick ist schön, schon der zweite ist Alter. Unsere Zivilisationsfreude ist der einsam in seiner Kammer hin und her wandernde Dichter. Ja, was soll er denn sonst tun, der einsame Dichter? Weil es regnete, war ich so erbost, daß ich aus der Kirche austrat. In einer Welt der Polarität hat auch die Dummheit ihren Platz, ihren ehernen Platz, und auch die Borniertheit, die Niedertracht und die Töterei. Ich habe das Leben nie als Wettbewerb gesehen. Bis ich gesehen habe, daß ich der Einzige bin, der so denkt, war ich gute vierzig. Umbringen ist immer gut, wen man etwas erledigen will. Das ist so schön endgültig. Du redest nur so. Reden ist zu wenig. Reden löst nichts. Seine Worte muß man auch einlösen. Umbringen ist wirkungsvoll, erlösend, zielstrebig, beendend, befreiend. Reden. Reden. Laßt ihn reden. (Auszug)

[kolik 10]